Vielleicht will der Kapitalismus gar nicht, dass wir gluecklich sind
sie seit 1990 kontinuierlich gesunken. Bei der Suizidrate liegen Manager an der Spitze; seit 1980 ist sie um 271 Prozent gestiegen. Auch in Europa fordere die Flexibilisierung ihre Opfer. Rosa schilderte das Beispiel von France Télécom. Die hatte ihren Führungskräften unter dem Slogan »Time to move« ein Dynamisierungsprogramm verordnet, das sie alle drei Jahre zwangsversetzte. So sollten sie offen für Neues, flexibel, innovativ und kreativ bleiben und eine zu enge Verbindung mit Personal, Routinen und Sozialräumen vermeiden. Das Ergebnis war, dass die Selbstmordrate derart zunahm, dass schließlich die französische Justiz gegen das Unternehmen ermittelte.
Es half Wagenknecht nichts, dass sie in Rosas Horn stieß und das enge Zeitkorsett beklagte, in das die »kapitalistische Ökonomie« uns alle einsperrt. Rosa hielt ihr vor, dass die Linke das Steigerungsspiel eifrig mitspielt. Solange von oben nach unten umverteilt würde und die Hartz- IV -Sätze aufgestockt würden, sei die linke Welt in Ordnung. Der Fehler der Linken sei, dass sie die Manager-Elite als Sieger betrachteten, die zu viel vom Kuchen abbekämen, während für den kleinen Mann zu wenig abfalle. Die Sieger seien aber gar keine Sieger, sondern »armselige, raffgierige, orientierungslose Süchtige, die ein unabschließbares Steigerungsspiel betreiben: Wachstum, Reichtum, Beschleunigung, Innovationsverdichtung«. Rosa stellte die Systemfrage, aber so, dass Wagenknecht darauf keine Antwort hatte. Denn sie ist Teil des Problems.
»Ein Spiel, das solche Gewinner erzeugt, ist idiotisch und ungesund, es macht über kurz oder lang alle zu Verlierern, deshalb sollten wir es so schnell wie möglich beenden«, riet Rosa.
Der Applaus war lang.
Ich hatte zwar nicht unbedingt den Eindruck, dass im Publikum das Mitleid mit den Spitzenmanagern überbordete, aber beneidet hatte sie nach Rosas Analyse auch keiner mehr. Die meisten gingen mit dem Gefühl nach Hause, dass Rosa nicht nur über Führungskräfte gesprochen hatte, sondern auch über sie. Über die zunehmende Unmöglichkeit, ein gutes Leben zu führen – mitten im Wohlstand. Ich wurde auch den Eindruck nicht los, dass es beim Antikapitalismus heute mehr um Therapie geht als um Klassenkampf. Das Unbehagen kommt mehr aus dem Gefühl, dass das System ungesund, instabil und unsicher ist und einfach die Erwartungen an ein gutes Leben nicht mehr erfüllt. Das überstrahlt die Problematik der Ungerechtigkeit und Ungleichheit, die sich in einer Überflussgesellschaft zwangsläufig anders stellt als im armutsgeprägten 19. Jahrhundert eines Karl Marx.
Bei Marx hatte der Kapitalist noch einen dicken Bauch und rauchte Zigarre. Er war ein Ausbeuter, der zwar besser mit Geld umgehen konnte als die Aristokratie, ihr aber im demonstrativen Besitz nacheiferte. Der heutige Topmanager ist dagegen ein Asket und Selbstausbeuter, von Luxus versteht er nichts. Um die Renditeziele zu erreichen, drückt er zwar die Kosten und Löhne, wo er kann, aber die Gehaltsexzesse der Vorstände haben nichts damit zu tun, dass die Herren einmal beabsichtigen, das Geld auch auszugeben. Dazu haben sie gar keine Zeit. Ich kenne in Berlin eine Innenarchitektin, die Privatwohnungen für Vorstände komplett bis zum Silberbesteck einrichtet, weil diesen jeder Sinn und Bezug dazu fehlt. Sie leben dann in Wohnungen, die meist aussehen wie teure Hotelsuiten und denen nahezu jede persönliche Note fehlt, und sind gleichsam Gast im eigenen Leben. Gier spielt sicherlich auch eine Rolle, aber psychologisch ausschlaggebender dürfte sein, dass ein hoher Bonus ein Ausweis besonderer Tüchtigkeit ist: Man hat die anderen übertrumpft. Sicherlich werden die Investmentbanker für ihre Millionenprämien auch beneidet, und viele empören sich, dass die Banker das Finanzsystem gegen die Wand fahren konnten, ohne dass dies größere juristische und politische Konsequenzen gehabt hätte. Aber nur wenige wollen mit den Workaholics in den Chefetagen tauschen.
Alle wünschen sich weniger Arbeit.
Die Menschen fürchten vielmehr, dass der Stress und die Arbeitsverdichtung im Job weiter zunehmen und dass es ihnen nichts bringt, wenn sie immer mehr in der gleichen Zeit leisten. Sie ziehen zwar mit, empfinden aber die permanente Anpassung als Zwang: 73 Prozent der Deutschen haben Angst, dass sie dem Veränderungsdruck nicht gewachsen sind. 43 Prozent haben das Gefühl, dass der Arbeitsstress in den letzten Jahren zugenommen hat, berichtet der Stressreport 2012
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