Vielleicht will der Kapitalismus gar nicht, dass wir gluecklich sind
Street. Vor dem tempelartigen Hauptquartier des US -Finanzkapitalismus verteilte dieser »lebendige« Erhard an die vorüber gehenden Börsianer sein Buch Wohlstand für alle. Die verdutzten Banker konnten darin lesen, dass Erhard für einen starken Staat plädiert, der die Finanzmärkte in den Dienst an der Realwirtschaft zwingt. Unsere Botschaft war: Der amerikanische Marktradikalismus kann von der Sozialen Marktwirtschaft viel lernen. Zu ihren Regeln müssen wir wieder zurückkehren.
Unser erhobener Zeigefinger war deshalb frech, weil wir selbst ja vom richtigen Weg abgekommen waren. Die Liberalisierung der Finanzmärkte war an der INSM und an der gesamten Realwirtschaft ziemlich vorbei gelaufen. Wir hatten schlicht darauf vertraut, dass bei deren Deregulierung alles lehrbuchmäßig funktioniert, dass also die Kapitalmärkte effizienter werden und alles dem Wohl der Volkswirtschaft dient. Im Nachhinein betrachtet war das naiv. Wir hätten es eigentlich besser wissen müssen, denn Walter Eucken hatte die Probleme der ungebändigten Finanzmärkte schon vor sechzig Jahren deutlich beschrieben. Doch wir waren auf diesem Auge blind gewesen. Ich zog für mich persönlich aus der Finanzkrise die Lehre, dass wir tatsächlich zu den Wurzeln der Sozialen Marktwirtschaft zurückkehren müssen. Der Pumpkapitalismus muss beendet werden, der uns in fatale Abhängigkeit zu den renditehungrigen Finanzmärkten gebracht hat. Sie verkörpern die Steigerungs- und Maximierungsideologie am reinsten. Was nützt es, wenn wir Sparsamkeit bei den Sozialkassen anmahnen oder Subventionen kritisieren, den Banken dann aber mit unvorstellbar großen Geldsummen unter die Arme gefasst wird? Die Rettung maroder Banken und europäischer Misswirtschaften kostet den deutschen Steuerzahler das Zigfache dessen, was etwa bei der Pflege- oder Krankenversicherung durch zu hohe Kosten verloren geht.
Nein, wir werden das Steigerungsspiel nicht gewinnen, schon gar nicht mit noch mehr Schulden und längeren Arbeitszeiten und höherer Arbeitsproduktivität, um die Schulden zurückzuzahlen. Der amerikanische Ökonom Kenneth Rogoff hat angemerkt, die Finanzkrise habe offenbart, dass sich die Ökonomen zu sehr mit mathematischen Modellen und zu wenig mit kulturellen Unterschieden beschäftigt haben. 11 Genau um diese kulturellen Wurzeln unserer Beschleunigungsgesellschaft geht es in diesem Buch.
Dieser kulturelle Blick auf den Kapitalismus ist uns nämlich verloren gegangen. Die Dominanz der Wall Street und der Ökonomie haben uns dazu gebracht, in alte Fehler zurückzufallen. Dabei kannten die Begründer der Sozialen Marktwirtschaft diese Fehler. Alexander Rüstow beschrieb den »theologisch-metaphysischen« Glauben an die »unbedingte Gültigkeit der ökonomischen Gesetze« sehr genau, und er erkannte auch die Gefahr, dass dadurch ihr normativer Charakter verschleiert wird. 12 Vollkommene Märkte gibt es nicht. Alle Märkte, auch der Casino-Kapitalismus der Wall Street, gründen sich auf staatliche Regeln, die Interessen und Zielen dienen. Im Fall des Casino-Kapitalismus der Wall Street dienen sie dazu, die Groß- und Schattenbanken reich zu machen und die Risiken den kleinen Mann bezahlen zu lassen – und das war den handelnden Akteuren auch sehr bewusst.
Der deutsche Ordoliberalismus wollte bei der Gründung der Bundesrepublik dieselben Fehler der Marktgläubigen nicht wiederholen. Doch nach dem Untergang des Sowjetkommunismus 1990 hat sich die Soziale Marktwirtschaft intellektuell nicht mehr erneuert. Gerade die Marktwirtschaftler müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, zu sehr in das Fahrwasser der Marktgläubigen abgerutscht zu sein.
Damit meine ich nicht, dass es falsch war, Wettbewerb zwischen Krankenhäusern oder im öffentlichen Dienst zuzulassen oder Teile der staatlichen Daseinsfürsorge zu privatisieren. Dass das Betreiben einer Bahnlinie ein staatlicher Hoheitsakt sein muss, vertritt nicht einmal mehr die Gewerkschaft Verdi. Es geht um die phantasielose Übertragung von marktradikalen Patentrezepten auf alle gesellschaftlichen Bereiche nach dem Motto: Der Markt ist die Antwort – was war noch mal die Frage? Es fehlen die ordnungspolitischen Denker. Zwar ist es in Deutschland selten zur Etablierung marktradikaler Lösungen gekommen, denn in der Praxis wehrten das stets Interessengruppen ab. Aber beim Finanzmarkt war und ist ein ordnungspolitisches Marktdesign bitter nötig.
Das größte Manko besteht aber darin, dass wir uns die
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