Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)

Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)

Titel: Vier Beutel Asche: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Koch
Vom Netzwerk:
auszahlte und Betrügereien irgendwann aufflogen. Er glaubte an Richtig und Falsch, und ich meist auch, aber nicht an dasselbe Richtig und Falsch. Und seit Christophs Tod glaubte ich nicht mehr, dass die Welt gerecht war.
    Wenn er nach Hause kam, zog er zuerst den dunklen Anzug aus, den er im Büro trug, meist ohne Krawatte, und schlüpfte in eine weite Jeans oder Jogginghose. Nicht an diesem Abend – da kam er früher heim und schnurstracks zu mir, um mit mir zu reden, und ich fragte mich sofort, ob er das auch als Arbeit empfand. Das war nicht fair, aber ich musste nicht fair sein. Wenn der beste Freund stirbt, durfte man ein Arschloch sein.
    »Wie war’s in der Schule?«, fragte er und zog den Schreibtischstuhl an den Sessel, auf dem ich lümmelte und vergeblich versuchte, einen Zombieroman zu lesen, ich konnte mich einfach nicht konzentrieren. Er setzte sich verkehrt herum auf den Stuhl, das sollte wohl kumpelhaft wirken. Zugleich war die Stuhllehne wie eine gepolsterte Mauer zwischen uns.
    »Gut«, sagte ich und legte das aufgeschlagene Buch auf der Lehne ab. Dabei war es einfach der übliche Trott gewesen.
    »Keine Klausuren, keine Noten, nicht ausgefragt worden?«
    »Nein.«
    »Hm.« Er nahm die schwarzrandige Brille ab und hielt sie mit Daumen und Zeigefinger, während er sich mit dem Handrücken die Nase rieb. Langsam setzte er die Brille wieder auf. Das tat er immer, wenn er ein schwieriges Gespräch begann; wahrscheinlich wollte er so noch ein wenig Zeit gewinnen, bevor es unvermeidlich wurde. Vielleicht dachte er auch nur nach und sammelte sich. »Deine Mutter und ich machen uns Sorgen.«
    Ich wartete und versuchte, ein möglichst gelangweiltes Gesicht aufzusetzen. Hatten sie etwas von den Briefen mitbekommen?
    »Ich weiß, was du gerade durchmachst und …«
    »Das weißt du nicht!«, unterbrach ich ihn.
    Er holte Luft und sagte langsam: »Nein, nein, ich weiß es nicht.«
    »Warum sagst du es dann?«
    »Weil ich dich jeden Tag sehe. Weil deine Mutter sieht, wie du leidest.«
    »Und?«
    »Wir machen uns Sorgen.«
    »Das hast du schon gesagt.«
    »Wir wissen … nein, wir können uns vorstellen, wie hart Christophs Unfall dich getroffen hat, auch wenn es eigentlich unvorstellbar ist. Wir haben ihn auch immer gemocht, und seine Eltern haben ihn geliebt. Deine Mutter hat seine Mutter heute beim Einkaufen getroffen, und sie legt eine bewundernswerte Haltung an den Tag, trotz ihres schrecklichen Verlusts. Ein fester Rahmen, Normalität ist das Beste in einer solchen Situation, sagen die Psychologen. Normalität. Irgendwann muss man eben wieder zu ihr zurückkehren, oder es zumindest versuchen. Je früher, desto besser.«
    Ich sagte nichts. Hundert Antworten wollten zugleich aus meinem Mund, drängelten und verkeilten sich ineinander, laut und ungestüm, aber keine polterte heraus.
    »Ich weiß, dass ich selten da bin, aber die Finanzkrise … Ich muss die Überstunden fahren, das Haus ist noch nicht ganz abbezahlt. Mama ist immer für dich da, aber solltest du fremde Hilfe brauchen, ist das kein Problem. Wirklich.« Er sah mich eindringlich an. In seinen Augen las ich Besorgnis und Zuneigung, aber auch Verwirrung, fast Hilflosigkeit. Er wusste nicht, wie er mit mir umgehen sollte, es gab keine launigen Anekdoten, die hier halfen. Seine Stimme klang ungewohnt leise und sanft. »Du weißt, dass das alles die Krankenkasse übernimmt, wir sind gut versichert. Darüber darfst du dir keine Gedanken machen.«
    Dachte er ernsthaft, ich würde mir im Augenblick Gedanken um die Bezahlung eines Psychologen machen? Tat er es etwa? Vollkommen verdutzt vergaß ich, ihn anzuschreien. Hatte er etwa erst bei der Krankenkasse angerufen, um sich über deren Leistungen zu erkundigen, bevor er mir nun diese Hilfe vorschlug?
    »Was für eine verdammte Hilfe denn?« Die Schulpsychologin hatte schon mit mir gesprochen, und nach der halben Stunde war ich sicher gewesen, dass ich keine Therapie wollte. Ich wollte nicht reden, sondern schreien. Ich wollte Gerbers Auto in die Luft sprengen, obwohl ich es nicht konnte. Ich wollte Christoph zurück, nicht mich mit seinem Verlust arrangieren. Ich wollte, dass der Schmerz verschwand. Auf keinen Fall wollte ich einen Fremden in meinen Kopf lassen, der Christoph nicht gekannt hatte und nicht verstehen konnte, für den Christoph Verlust Nr. 107 war und ich der Dienstagstermin von 16.00 bis 17.00 Uhr.
    »Ein Spezialist. Jemand, der sich auskennt.« Vater wirkte müde.
    »Ich brauch

Weitere Kostenlose Bücher