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Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)

Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)

Titel: Vier Beutel Asche: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Koch
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stand reglos da und starrte ihnen nach.
    Michi warf den Ball hoch, fixierte ihn mit verkniffenen Augenbrauen, und als die Kugel sich senkte, drosch er sie mit dem Fuß Richtung Gleise.
    Unerbittlich stampfte der Zug heran.
    Ohne Rücksicht auf irgendwas warf sich Christoph direkt vor Michi in die Flugbahn des Balls, die Arme ausgestreckt. Der Ball knallte ihm mitten ins Gesicht und wurde abgelenkt. Er flog über den mannshohen grünen Maschendrahtzaun zur Wiese nebenan, weit entfernt von den Gleisen.
    Der Zug raste vorbei.
    Verdutzt starrte Michi auf den Jungen, der vor ihm auf der Erde lag und sich fluchend das Gesicht hielt. Einen Moment lang sah er so aus, als wollte er Christoph treten oder auf ihm herumtrampeln, aber dann lachte er los: »Voll in die Fresse! Zwei gegen einen, was? Voll in die Fresse!«
    Er nahm die Kippe aus dem Mund und schnippte sie Christoph ins Haar, drehte sich um und ging zum Sandkasten zurück. Dabei schüttelte er lachend den Kopf. »Voll in die Fresse.«
    Christoph rappelte sich auf, er fluchte noch immer und blutete aus der Nase.
    »Danke.« Ich war fest davon überzeugt, dass er meinen Ball gerettet hatte, Michi hätte diesmal hundertprozentig getroffen. Dann erst fragte ich: »Geht’s?«
    »Ja. Klar.« Das Blut tropfte auf sein Trikot und klebte ihm im Gesicht. »Lass uns den Ball holen.«
    Wir sprangen über den Zaun und rannten hin. Ich nahm ihn mit dem Fuß auf, jonglierte ihn zweimal und fing ihn auf. Der Ball war sicher. Mit Daumen und Speichel rubbelte ich über das Logo, die Zigarette hatte kaum Spuren hinterlassen.
    Wir stapften weiter über die Wiese zur nahen Unterführung, durch die ein asphaltierter Feldweg unter den Gleisen aus dem Dorf hinausführte. Ich zeigte Christoph den Bach, wo er sich das Blut abwaschen konnte.
    »Ich hoffe, das geht aus dem Trikot wieder raus«, sagte ich.
    »Bestimmt. Oder meinst du, die schmeißen in der Bundesliga immer das Trikot weg, wenn einer sich eine Platzwunde zuzieht?«
    »Vielleicht haben die Spezialwaschmittel?«
    »Vielleicht.« Vorsichtig tastete er mit den Fingern, ob noch immer frisches Blut aus der Nase lief. Er rotzte es direkt in den Bach. Darüber lachten wir, und ich rotzte auch in den Bach, obwohl ich nicht blutete und keinen Schnupfen hatte. Ich musste extra Speichel hochziehen. Wir kicherten und rotzten, bis wir nicht mehr konnten. Christophs Nase blutete schon lange nicht mehr.
    »Wer ist eigentlich die Nummer 12?«, fragte ich.
    »Die Fans«, sagte er. »Die Fans sind der zwölfte Mann.«
    »Cool.«
    »Ja. Aber ich hätte lieber die 9. Ich wäre lieber Torjäger«, sagte Christoph.
    Wir gingen zurück zum Bolzplatz und spielten weiter, bis es dunkel wurde.

5
    »Du kommst auch wirklich klar?«, fragte mich meine Mutter, als die Ferien näher rückten.
    Wir standen in der Küche, und im Hof gegenüber heulte eine Kreissäge. Ich hatte kurz vor Notenschluss noch eine Zwei in Erdkunde nach Hause gebracht, weil Knolle mich hatte abschreiben lassen. Seitdem hofften meine Eltern, die Zeit der Fünfen sei vorbei. Für sie hatte ich nun wieder eine Zukunft, mein Vater sagte nach einem langen Tag im Büro, er sei stolz auf mich und so würde ich im nächsten Jahr wieder angreifen , was das Abi anbelangt.
    Angreifen , als wäre das Leben eine Sportart. Ich hasste es, wenn er die Floskeln aus der Arbeit mit nach Hause brachte. Sollte er ruhig mal motzen, Hauptsache er sprach mit mir nicht wie mit einem Mitarbeiter, den er motivieren sollte.
    Seit der Beerdigung hatte ich mich zwischen lauter Musik und Büchern vergraben, deren Inhalt ich vergaß, noch während ich sie las. Am Rechner hatte ich zehntausend Zombies und mehr getötet und doch niemals genug. Weil ich zu Hause aber weder randalierte noch auf den Teppich kotzte und die letzte Note eine Verbesserung gewesen war, hofften meine Eltern, ich käme mit der Sache langsam klar.
    Klarkommen war ihre Formulierung, und sie fragten mich, ob und nicht wie ich klarkäme, und deshalb konnte ich einfach immer Ja sagen. Ich wollte nicht reden, konnte den Schmerz und die dunklen, durcheinanderwirbelnden, ziellosen Gedanken nicht in Worte fassen, sosehr ich es auch versuchte. Nachts saß ich manchmal auf dem Fensterbrett, starrte in den Himmel und versuchte alles aufzuschreiben, aber es gab die Worte nicht. Schmerzen hatte man auch, wenn man sich in den Finger schnitt, Schwärze konnte schön sein, eine Leere konnte man füllen, und damit war alles zu wenig, zu oft benutzte Wörter, die

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