Vier minus drei
Bilder meiner Fantasie und die Realität beginnen sich wie zwei Folien in Zeitlupe übereinanderzulegen, um ein Ganzes zu ergeben. In meinem Kopf wird es mit einem Mal still. Totenstill . . Sabine starrt mich fassungslos an. Sehe ich etwa aus wie ein Gespenst? Oder wie ein Engel vom Himmel? Kreidebleich, ja, das bin ich vermutlich. Flügel habe ich, glaube ich, keine. Nur meinen unsichtbaren Mantel. Immerhin.
Endlich bringt Anna ein erstes Wort heraus.
»Barbara!«
Sie tritt auf mich zu und umarmt mich fest.
»Ist jemand gestorben?«
»Ja.«
»Heli?«
»Ja.«
»Und die Kinder?«
Stille. Tränen.
»Ist der Thimo auch tot?«
»Er war tot und ist wiederbelebt worden. Ich weiß nicht, was mit ihm ist.«
»Und die Fini?«
»Die ist schwer verletzt. Nicht bei Bewusstsein. Die Kinder werden ins Krankenhaus gebracht. Komm jetzt, wir bringen dich ins Haus.«
Ich lasse es geschehen.
Als Jugendliche war ich einmal in einen Unfall verwickelt. Mein damaliger Freund brachte mich in seine Wohnung und packte mich kurzerhand in eine warme Decke.
»Du hast einen Schock, da ist Wärme das Allerwichtigste«.
Das hatte er gerade im Führerscheinkurs gelernt.
Auch Anna und Sabine ziehen mir die Jacke aus und packen mich ins Bett. Dieser ganz selbstverständliche Ablauf gibt mir vorübergehend Sicherheit.
Ich habe einen Schock.
Ich zittere und bekomme eine Wärmeflasche.
Ich weine und bekomme Taschentücher.
Ich stelle Fragen und bekomme Antworten.
So einfach ist das. So banal. Ich halte mich fest an diesen unkomplizierten Vorgängen. Die Welt ist sogar in dieser Stunde, da mein Leben völlig aus dem Ruder gerät, immer noch ein wenig berechenbar.
Es gibt Dinge, die ich noch steuern kann. Ich kann um Hilfe bitten. Ich kann die Wärmeflasche spüren. Ich kann mich bedanken.
Ich klammere mich an diese Kleinigkeiten, einer Ertrinkenden gleich, die mit letzter Kraft einen Rettungsring ergreift. Der Ozean, der mich zu verschlingen droht, ist unermesslich groß und bedrohlich tief. Instinktiv spüre ich: Ich kann es mir nicht leisten, loszulassen und den Blick abzuwenden von den kleinen Dingen, die gut sind. Auf sie konzentriere ich mich. Mit allen Sinnen, mit jeder Faser meines Körpers.
Anna und Sabine zünden mit langsamen, ruhigen Bewegungen Kerzen an, während ich ununterbrochen vor mich
hin rede. Ich muss die Tatsachen immer wieder laut aussprechen.
»Heli ist tot und die Kinder werden vielleicht sterben. Heli ist tot. Thimo ist vielleicht auch tot. Fini ist schwer verletzt.«
Ab und zu hänge ich ein Fragezeichen an meine Sätze und warte auf die immer gleiche Antwort.
»Heli ist tot?«
»Ja, Heli ist tot«, bestätigt Anna.
Ich wiederhole die Sätze wie ein Mantra, so lange, bis ich die ganze fürchterliche Wahrheit überhaupt irgendwie zu begreifen vermag. Dann beginne ich mit Heli und den Kindern zu sprechen. Rufe Heli zu, wie sehr ich ihn liebe. Feuere meine Kinder an, durchzuhalten. Ich nehme Finis Lebenskraft wahr und spüre gleichzeitig, dass Thimo nicht mehr bei uns ist.
»Heli ist da, im Raum«, flüstert Sabine und, ja, ich spüre ihn auch. Warm und hell. Ein Lichtball mitten im Zimmer.
»Schau!«
Anna zeigt aufs Fenster. Es schneit in dicken Flocken, obwohl der Himmel blau und wolkenlos ist.
Ein Gruß von Thimo.
Das denken wir alle gleichzeitig.
Inzwischen ist Sabines Lebensgefährte eingetroffen. Er ruft die Kinderklinik an. Nach ein paar Minuten weiß er, auf welche Station meine Kinder gebracht wurden. Ich werde ins Auto gesetzt, auf die Rückbank. Anna und Sabine geben mir von beiden Seiten Halt. Ich kenne den Weg. Hätte ihn ja selbst fahren sollen, heute, an demselben Nachmittag, zur selben Stunde. Ich werde im selben
Krankenhaus von denselben Schwestern erwartet wie auch sonst an jedem Donnerstag, seit acht Jahren schon.
Ich komme. Heute allerdings ohne Clownnase und ohne buntes Kostüm. Ohne ein fröhliches Lächeln und ohne einen Scherz auf den Lippen. Und die Kinder, die auf mich warten, sind diesmal meine eigenen.
Will ich es Zufall nennen, dass meine Kinder in genau jenes Krankenhaus eingeliefert wurden, in dem ich jahrelang als Clown Menschen zum Lachen gebracht hatte? Oder darf ich vielmehr glauben, dass der Puppenspieler, der mich führte, sich die Rahmenhandlung für sein Stück gut überlegt hat?
Wer soll mir die Erlaubnis geben, es zu glauben? Wer, wenn nicht ich selbst? Ich richte meinen Blick nach oben, dorthin, wo ich den Puppenspieler vermute, und danke ihm. Dafür,
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