Vier Werte, die Kinder ein Leben lang tragen
zum Besten, doch gelingt es allen Erwachsenen, die leicht erstarrten »kinderfreundlichen« Mienen beizubehalten, während ihre Körper sich dem kleinen Goldschatz wohlwollend entgegenneigen. Die Erwachsenen haben inzwischen ihr eigenes Essen in Angriff genommen, doch ihre gesamte Aufmerksamkeit wird von der Frage beansprucht, was der Junge denn nun essen will, da er seine Gnocchi verschmäht. Er lehnt jeden Vorschlag ab, und erneut scheint es so zu sein, als habe er ein stillschweigendes Abkommen mit seiner Mutter geschlossen – diesmal soll es Pizza sein. Als die Pizza kommt, will er sie nicht essen. Mutter und Großmutter greifen zu einem alten Trick, probieren ein Stück von der Pizza und übertreffen sich mit Lobeshymnen, wie fantastisch sie schmecke. Auch das hilft nicht.
Doch immerhin verschafft der Junge seiner Familie eine kurze Atempause, da er plötzlich einen Hund entdeckt hat, der zu einem anderen Tisch gehört. Zum Luftholen kommen seine Familienangehörigen trotzdem nicht, weil sich all ihre Aufmerksamkeit nun auf den Jungen und den Hund richtet, während das Essen mechanisch in ihren Mund wandert und der Vater Wein trinkt, als wäre es Wasser.
Nachdem er an den Tisch zurückgekehrt ist, erklärt der Junge, er sei hungrig, wolle aber keine Pizza. Die anschließenden langwierigen Verhandlungen enden damit, dass er den Vorschlag seiner Großmutter – eine Portion Schokoladeneis – annimmt. Sein Vater scheint nicht gerade begeistert von diesem Vorschlag zu sein, enthält sich aber eines Kommentars und bestellt sich einen Grappa.
Schließlich serviert der Kellner das Eis mit großer Geste und ironischem Lächeln. Die Mutter beugt sich über den Tisch, bemächtigt sich des Eislöffels und füttert ihren Sohn. Der spuckt das Eis umgehend auf die Tischdecke und beklagt sich lauthals, dass keine Nüsse im Eis seien. Daraufhin isst die Mutter das Eis auf, der Vater trinkt noch einen Grappa und bezahlt die Rechnung.
Dies ist eine Szene von der Art, die Psychologen veranlasst, moralisierende Bestseller über »Kleine Tyrannen« zu schreiben.
Nachdem die Familie das Lokal verlassen hatte, sah mich die Journalistin mit blanken Augen an und sagte, sie habe gerade ihre eigene Familie von außen betrachtet. Sie war erschüttert, und wir haben die nächste halbe Stunde unseres Gesprächs dazu verwendet, den gesamten Verlauf noch einmal durchzugehen und die alternativen Möglichkeiten der Eltern zu skizzieren.
Sie sagte, sie und ihr Mann (die drei Kinder haben) gehörten einer Elterngeneration an, die ich als Neoromantiker bezeichne. Sie gehen voll und ganz im »Projekt Kind« auf und wollen nur eins: eine glückliche und harmonische Familie.
Sie haben durchaus die richtigen Bücher gelesen, jedoch die Kapitel über unumgängliche und notwendige Konflikte ausgelassen. Sie verwenden – wie die Mailänder Familie – all ihre Energie, Kreativität und Liebe darauf, Konflikten und Frustrationen aus dem Weg zu gehen. Es besteht für Eltern jedoch gar kein Grund, die Frustration ihres Kindes, die natürlicherweise bei einem »Nein« erfolgt, persönlich zu nehmen oder sie als Zeichen ihres Versagens aufzufassen. Trauer, Enttäuschung, Wut – das sind völlig normale und wichtige Emotionen, die zu empfinden dem Kind überhaupt nicht schaden, die es im Gegenteil reifen lassen, sofern es von den Eltern deshalb nicht kritisiert oder lächerlich gemacht wird.
Die defensive Haltung, bei der alles darum geht, vorzubeugen, zu verhindern und Konflikte aufzuhalten, entwickeln Eltern schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt. Sie versuchen ein positives Vorbild zu sein, indem sie allzeit gefasst und ruhig reagieren, aber wie sollen Kinder von ihnen so wichtige Eigenschaften wie Konfliktfähigkeit, Frustrationstoleranz oder Empathie lernen? Ihr ständiges Bemühen um Harmonie führt natürlich dazu, dass sie nichts als Disharmonie und Konflikte bekommen. Wenn ein Kind ständig schlecht gelaunt und in Machtkämpfe mit den Eltern verstrickt ist, versucht es nur sein Recht darauf zu erstreiten, traurig, ängstlich, wütend oder verzweifelt sein zu dürfen, ohne dass dies für seine Eltern ein Problem ist, weil sie es sich sofort wieder als ihr eigenes Versagen ankreiden.
Neoromantische Eltern haben sich in die Idee hineingesteigert, dass Kinder sehr viel Aufmerksamkeit brauchen, und geben ihnen doppelt so viel, wie diese tatsächlich benötigen. So bekommen ihre Kinder nie die Möglichkeit zu lernen, dass auch andere Menschen
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