Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
weiter warten? Oder weiterlaufen?
Allein zu laufen traut er sich nicht...
Der Holländer stellt mir die
obligatorische Frage, warum ich den Weg laufe.
Bis vor kurzem hätte ich keine
Schwierigkeiten gehabt, diese Frage zu beantworten, aber seit Rita zu mir auf
Distanz gegangen ist, bin ich im Erklärungsnot.
„Ich laufe aus religiösen Gründen“,
sage ich, und hoffe, daß es genügt.
„Wieso? Sie glauben doch nicht, daß der
Jakobus in Santiago begraben liegt?“
„Nein, das gerade nicht. Aber ich habe vor
einiger Zeit meine Frau durch eine schwere Krankheit fast verloren und...“
„Auch ich habe meine Frau verloren“,
unterbricht mich der Holländer, „Sie ist mit meinem besten Freund abgehauen.“
„Erinnern Sie mich bloß daran nicht!“
denke ich, und eigentlich bin ich nicht böse darüber, daß ich meine Geschichte
nicht weiter zu erzählen brauche.
„Das hat aber mit meiner Pilgerreise
nichts zu tun“, setzt er fort. „Ich bin auch nicht religiös. Ich wollte erst
auf dieser Reise nach einer Religion suchen.“
„Und? Haben Sie eine gefunden?“
„Ja, ich denke, ich bin am ehesten
Buddhist geworden.“
Ich will fragen, was er damit meint,
aber der Deutsche ist schneller:
„Ich finde die Freimaurer am besten!“
sagt er. „Schon wegen der Toleranz. Nur die Geheimnistuerei gefällt mir nicht.“
Wir wissen zu wenig über die Freimaurer
und fragen ihn nach näheren Informationen, aber er hat keine. Er weiß immerhin,
daß die sehr tolerant waren und bei ihren Kulthandlungen geheime Zeichen wie
Sterne und andere geometrische Formen benutzt haben. Dabei zeichnet er mit
einem Bleistift einige Sterne auf die Papier-Tischdecke.
Damit hat er bei unserem spanischen
Tischgenossen ins Schwarze getroffen. Der wird sehr lebhaft, nimmt den Stift
und zeichnet ein großes Dreieck und daneben einen Kreis. Danach schaut er uns
wissend und erwartungsvoll an.
Wir müssen zugeben, unwissend zu sein.
Was will er uns mit diesen Zeichen andeuten? Wir fragen danach.
In gebrochenem Französisch erklärt er
uns, daß dieses Dreieck Amerika ist, der Kreis dagegen die Sonne. Wenn man die
Fläche Amerikas in ein Dreieck umrechne, dann sei die Höhe dieses Dreiecks in
Metern genauso viel, wie die Entfernung zwischen Erde und Sonne in Kilometern.
Das ist die Grundformel des Universums, auf der alles Wissen und die Wahrheit
der Welt beruhe. Der desolate Zustand der heutigen Welt ist einzig damit zu
erklären, daß die Menschen diese Wahrheitsformel ignorieren, viele ja nicht mal
kennen! Das ist aber kein Zufall, sondern das Ergebnis der Machtbesessenheit
der Katholischen Kirche. Die Formel wurde nämlich von den Templern entdeckt,
die damit die Alleinherrschaft der Römischen Kirche gefährdeten. Das ist der
Grund, warum sie verfolgt und eliminiert wurden. Jetzt ist er unterwegs nach
Santiago de Compostela, um dort das von ihm wiederentdeckte Geheimnis der
Templer zu verkünden.
Für heute habe ich genug Geheimnisse
erfahren. Ich verabschiede mich und gehe schlafen.
Freitag, am 11. Juli
Von Vega del Valcarce nach O Cebreiro
Nachts wurde ichwieder
von Flöhen zerbissen. Kein Wunder, daß es in der Herberge Flöhe gibt: Mehrere
Katzen fühlen sich sichtbar heimisch in dem verdreckten Schlafraum. Schuld
daran sind die weiblichen Gäste, die diese Tiere nicht genug füttern und
streicheln können.
Mein Unwohlsein nimmt beängstigende
Züge an. Ich fühle mich schwach und nach jeder halben Stunde muß ich die Büsche
aufsuchen. Als ich nur mit einem dünnen Tee im Magen losgehe, liegt ein dichter
Nebel im engen Tal. Die alte Landstraße führt keinen Verkehr, die neue
Autoroute verläuft angenehm weit weg vom Talboden, irgendwo oben am Berghang.
Das Dorf Herrerías ist eine
Straßensiedlung, wo eigenartigerweise nur die Bergseite der Straße bebaut ist;
rechts liegen die Wiesen. In der Ortsmitte ist ein Rastplatz für Pilger:
Steinbänke und eine reich sprudelnde Quelle laden zu einer kurzen Pause ein.
Zwei alte Männer halten in der Nähe einen Klönschnack. Beide tragen ein
Schuhwerk, welches ich noch nie gesehen habe. Es sind Holzschuhe, wie sie
beispielsweise von den Holländern getragen werden, aber jeder der Schuhe hat
unten vier recht hohe Füße. Eigenartig.
Bald verläßt der Pilgerweg den Fluß.
Eine schmale steile Steinstraße schlängelt sich in engen Windungen am Berghang
in die Höhe. Es muß eine uralte Straße sein: In die Steine sind tiefe Radspuren
eingegraben.
Ich bin wieder in 1000 Meter
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