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Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Titel: Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: János Kertész
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sich auf einen Stuhl, Antonía
soll sich vor ihm hinstellen und die Augen schließen. Auch er schließt seine
Augen und verharrt einen Augenblick in meditativer Gebetshaltung. Dann „tastet“
er mit seinen Händen den gesamten Körper von Antonía ab, ohne sie dabei zu
berühren. Er fängt bei ihren Haaren an und setzt diesen Vorgang bis zu den
Knöcheln fort.
    Ich finde die Situation etwas
ungewöhnlich und für mich überraschend und versuche, meine Verlegenheit mit
einem Grinsen zu überspielen, aber dann lasse ich das, weil ich merke, daß alle
außer mir die Prozedur sehr ernst nehmen.
    Die Heilbehandlung ist beendet. Antonía
ist baß erstaunt: Die Schmerzen sind weg! Ich finde keinen Grund, es ihr nicht
zu glauben. Wir verlassen die Stadt, indem wir auf der alten Brücke den Fluß
Búrbia überqueren. Die traditionelle Pilgerroute folgt der Talsohle der
Valcarce, wo heute die Nationalstraße IV entlang läuft, eine viel befahrene
Rennstrecke. Obwohl die vorbeirasenden Fahrzeuge den Laufgenuß stark
beeinträchtigen, ist die Schönheit der Landschaft nicht zu übersehen. Die
Talseiten werden immer höher und steiler. Die Ufer des munteren Flüßchens sind
üppig grün bewachsen, die weißen Blüten der zahlreichen Eßkastanienbäume lassen
das Grau des Asphalts nicht bestimmend werden.
    Die wenigen Dörfer werden von der
Schnellstraße umgegangen. Wir erholen uns von dem Verkehrslärm, indem wir den
stillen Dorfstraßen folgen. Dabei ergeben sich für Antonía manche
Gelegenheiten, mit Einheimischen ein Schwätzchen zu halten. So erfahre ich, daß
es in Pereje kein Schulkind mehr gibt, dafür aber fünf unverheiratete Männer im
besten Alter, die keine Frau bekommen, weil keine Frau hier leben möchte. In
Trabadelo gibt es noch zwölf Schulkinder und eine kleine Schule. Da der hiesige
Lehrer Englisch nicht unterrichten kann, wird wöchentlich zweimal ein
Englischlehrer aus Villafranca mit dem Taxi abgeholt.
    Englisch zu sprechen gehört heute zu
den Kulturtechniken wie lesen, schreiben oder Auto zu fahren. Wie ich bereits
erwähnte, Englisch habe ich auch nicht gelernt. Trotzdem: Antonía verstehe ich
gut. Das hat zwei Gründe. Der erste: Sie spricht mit mir wie engelsgeduldige
Lehrerinnen mit begriffsstutzigen Schülern zu sprechen pflegen. Zweitens: Die
englische Sprache ist mir doch nicht völlig fremd. Daß es so ist, verdanke ich
Willy Scanover.
    Nur die allerwenigsten werden es
wissen, wer Willy Scanover gewesen ist. Für mich war er der Größte, ein guter
Freund meiner Jugend, der Botschafter einer besseren Welt. Für den nüchternen
Realisten: Er war in den fünfziger Jahren Musikredakteur bei dem Radiosender
„Stimme Amerikas“.
    Damals lebte ich als Schüler in Budapest.
Das war die Zeit, in der sich im kommunistischen Ungarn die Schlager wie
Kinderlieder anhörten. Und erst die Texte! Hier eine kurze Kostprobe, frei
übersetzt:
     
    „ Heuwagen, Heuwagen,
    Wir fahren auf dem Heuwagen.
    Die Blätter auf den Bäumen werden allmählich gelb.
    Du kannst es sehen: Abends ist es kalt.“
     
    Übrigens, ungarisch hört es sich genau
so bescheuert an wie deutsch, und ich weiß heute noch nicht, was der Autor uns
sagen wollte.
    Selbstverständlich war alles verpönt, wenn
nicht verboten, was nicht der von Moskau diktierten Norm entsprach. Englisch
war die Sprache der „Imperialisten“, Popmusik oder gar Jazz deren entartete
Kultur.
    In diesem düsteren Jammertal erklang
allabendlich, nach den 20-Uhr-Nachrichten, die sonore Stimme:
    „This is the
voice of America from Tanger. My name is Willy Scanover...“ und dann kamen zwei Stunden Freude
pur, eine Art seelischer Freigang aus dem sozialistischen Käfig. Eine Stunde „Popularmusic“, also Ray Anthony,
Glenn Miller und Mantovani, und danach eine Stunde „ Progressivjazz“ jedenfalls das, was man damals so nannte, also
Stan Kenton, Dave Brubeck und MJQ.
    Diese Musiker waren für mich keine
Menschen aus Fleisch und Blut, wie du und ich, sie waren vielmehr
übernatürliche Wesen aus einer anderen, fernen, besseren Welt. Wenn mir damals
jemand gesagt hätte, daß manche meiner Idole dabei ist, sich mit Rauschgift in
einen Zombie zu verwandeln, hätte ich ihn zum Verrückten erklärt.
    Damals habe ich den ganzen Tag dieser
Sendung entgegen gefiebert und wenn es so weit war, dann gab es für mich nichts
anderes. Das Radio mußte ich ganz leise stellen: Die Nachbarn sollten es nicht
wissen, daß ich mit dem Feind sympathisierte.
    Ich versuchte, keine

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