Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
Sendung zu
verpassen. Am nächsten Tag in der Penne wartete schon die Clique: „Hast du den
gehört? Toll! Aber den vierten Takt habe ich vergessen! Wie geht der bloß?“
Tonbandgerät haben wir ja noch keines gehabt, aber einer hat sich meistens an
den „vierten Takt“ erinnert und hat den vorgepfiffen. Dann waren wir glücklich
darüber, wieder einen Song mehr zu kennen.
Natürlich wollten wir auch wissen, was
die Titel der einzelnen Stücke bedeuten. „I can‘t give you anything but love“ oder „I’m crazy about my baby and my baby is crazy
about me “, und da hatte man schon den Grundwortschatz zusammen. Dies
war mein einziger Englischunterricht, aber er scheint mir jetzt gute Dienste zu
leisten.
Und ich mache Fortschritte: Immerhin
schaffe ich es, mich mit Antonía lange und intensiv über Goethe zu unterhalten.
Sie kann zwar die eine oder andere Strophe des Dichterfürsten spanisch
vorsagen, aber von seinen naturwissenschaftlichen Studien hat sie noch nie
etwas gehört. Ich erzähle ihr von der Goethe’sche Farblehre, von der
Königskerze und von dem Kasseler Elefanten. Und von dem großartigen,
problembeladenen und verliebten Menschen, und von seiner Reise nach Italien.
Und das alles auf Englisch. Allerdings mit starker Zuhilfenahme der Hände und
Füße. Dabei vergeht die Zeit und wir erreichen Vega de Valcarce.
Das langgestreckte Straßendorf hat
außer drei Bars und einer Herberge nichts zu bieten. Wir gehen erst mal Kaffee
trinken.
Die Probleme, die ich infolge der
gestrigen Obstpflückerei bekommen habe, dauern an. Ich bin ziemlich entkräftet
und so beschließe ich, für heute das Laufen genug sein zu lassen. Die nächste
Herberge ist zwölf Kilometer weiter und siebenhundert Meter höher.
Antonía ist unentschlossen. Sie hat
nicht so viel Zeit wie ich und will nach der Pilgerreise noch einige Tage in
England verbringen, bevor die Schule wieder anfängt.
Wir schauen uns die Herberge an: Ein
auffallend schmuddeliger Schlafraum, keine Küche, die Dusche hat nur kaltes
Wasser. Wir suchen uns schon mal Plätze, aber die Entscheidung verschieben wir
bis nach einem Mittagsschläfchen.
Wir schlafen etwa zwei Stunden. Danach
ist Antonía frisch und ausgeruht, ich aber bin schwach und blaß. Sie packt ihre
Sachen. Noch ein überraschend heftiger, etwas ungeschickter Abschiedskuß und
sie ist weg.
Ich bleibe ziemlich bedröppelt zurück.
Es ist ungewöhnlich still um mich geworden. Ich frage, wieso ich fortdauernd
der Meinung war, daß sie mich mit ihrer pausenlosen Gerede nervt und nicht
gewußt habe, daß sie mir fehlen wird.
Abends gehe ich in ein Lokal. An einem
Tisch sitzen schon drei Männer und sie bitten mich, bei ihnen Platz zu nehmen.
Der erste meiner Tischgenossen ist ein
sportlicher sonnengebräunter Holländer, Mitte Fünfzig, ein Urlaubspilger, der
die Strecke in mehreren Etappen von Amsterdam bis hierher geschafft hat.
Der zweite ist ein Spanier,
Sechsundsechzig Jahre alt, vom Beruf Maurer. Er macht den Weg zum Drittenmal,
diesmal von León.
Der dritte ist ein Deutscher, Anfang
Sechzig. Er erzählt, daß er schon immer davon geträumt habe, diese Pilgerreise
zu machen. Durch eine Zeitungsannonce hat er die Bekanntschaft mit einem
anderen Pilger gemacht, der schon gewisse Erfahrung mitbrachte: Im vorigen Jahr
ist er mit anderen von St-Jean-Pied-de-Port bis León gelaufen, aber dort haben
sie sich so in die Haare gekriegt, daß sie sich trennten und einzeln nach Hause
gefahren sind. Warum dieser Mensch damals die Reise nicht allein fortgesetzt
hat, kann er nicht sagen.
Diesmal sind die beiden, nach dem sie
sich durch die Anzeige gefunden haben, nach León gefahren, ohne sich vorher
auch nur ein einziges Mal getroffen und gesehen zu haben. Auch ein Gespräch
über die gemeinsame Pilgerreise fand nicht statt. Erst als sie vor einer Woche
in León losgelaufen sind, entpuppte sich sein Pilgerbruder als ein
leistungsbesessener Rennläufer, der mit Stoppuhr in der Hand lief, und wenn er
einen Kilometer vierzig Sekunden langsamer lief als den davor, wurde er schon
nervös und verschärfte das Tempo. Am Anfang versuchte mein Tischgenosse noch,
hinter seinem Kompagnon her zu hecheln, aber schon am ersten Tag sei es
offensichtlich gewesen, daß er nicht mitkomme. So sei er dann immer ein Stück
mit dem Bus hinter seinem Mitpilger gefahren. Bis vor zwei Tagen ging das so.
Dann aber hätten sie sich verloren. Jetzt sitzt dieser Mensch hier und weiß
nicht, was er machen soll. Soll er noch
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