Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
als Kopfkissen benutze, wieder zum Einsatz kommen.
Auf Empfehlung von Anton, dem Wirt,
trinke ich vor dem Schlafengehen noch drei Gläser Rotwein. Der soll gegen alle
Arten von Unpäßlichkeit, auch gegen Magenverstimmung, das beste Mittel sein.
Samstag, am 12. Juli
Von O Cebreiro nach Triacastela
Wieder eine Landstraße,wenn auch kaum befahren. Die Aussicht auf die friedlichen
bewaldeten Berge und Täler ist erfreulich. Der Rotwein hat geholfen: Ich fühle
mich wesentlich besser als in den letzten zwei Tagen.
Nach zwei Stunden erreiche ich den Paß
Alto do Poio; danach geht es bis Abend stetig abwärts. Auf der Paßhöhe finde
ich eine Bar, wo ich neben dem schwarzen Tee sogar einige salzige
Kartoffelchips zu mir zu nehmen wage.
Auf der linken Flanke eines breiten
Tales senkt sich der Weg über sattgrüne Wiesen hinunter. Wohlgenährte rotbraune
Kühe schauen mir neugierig nach, wie ich an ihnen vorbei schreite. Während
unten im Flachland eher Schafe gezüchtet werden, sind es in den Bergen die
Kühe, die das Gras in Kacke verwandeln: Die Wege sind, hier wie dort, dick
bedeckt von den Exkrementen der Tiere.
Manchmal begegne ich spanischen
Pilgern, junge Leute, die mich überholen. Ich höre sie schon aus großer
Entfernung, wenn sie kommen. Sie schreien nämlich. Spanier schreien.
Grundsätzlich. Vielleicht ist das eine Folge der relativ dünnen Besiedlung: Sie
müssen schreien, wenn sie sich mit dem Nachbarn, der einen halben Kilometern
weit weg wohnt, über den Zaun unterhalten wollen. Ich begegne immer wieder
alten Menschen, die, wenn ich sie grüße, keine Reaktion zeigen. Sie sind sicher
taub, Opfer ihres eigenen Geschreis in jüngeren Jahren. In einer kleinen
Siedlung, die nur aus einigen Häusern besteht, gibt es eine Bar, wo ich, um
etwas zu trinken, einkehre. Zum Sprudel stellt mir die Wirtin einen Teller mit
Schinken und Käse hin, alles aus eigener Herstellung. Sie ruft auch noch ihren
halbwüchsigen Sohn herbei, um ihn mir stolz zu präsentieren. Er hat dasselbe
freundliche Gesicht wie seine Mutter. Ich fühle mich behandelt wie ein lange
erwarteter Verwandter. Beim Abschied bittet sie mich, wiederzukommen, und gibt
mir eine unpassend professionell gestaltete Geschäftskarte. Ich finde dies
rührend, da ich das Haus, ja kaum das Dorf wiederfinden würde.
In tieferen Lagen ändert sich das
Landschaftsbild. Die grünen Felder sind kleiner geschnitten und mit dichten
Hecken umgrenzt. Der Weg, auf dem ich laufe, ist meistens ein tiefer,
schattiger, feuchter Hohlweg. Oft stehen am Wegrand alte bemooste Eßkastanien.
Der Boden ist, wie die Hänge des Tales, steinig. Es ist ein Sandstein mit
ausgeprägt schieffiger Lagerung. Aus diesen Steinen sind die zahlreichen
kleinen Ortschaften erbaut, sowohl die Wände als auch die Dächer der Häuser. An
vielen Stellen ist sogar die Umzäunung der Grundstücke aus hochkant gestellten
Steinplatten erstellt.
Die schöne neue Herberge in Tricastela
hat immerhin achtzig Betten, die aber lange nicht ausreichen. Auf den Gängen
und in den Serviceräumen campen etwa weitere 40-50 Pilger, meistens Spanier in
schulpflichtigem Alter. Eine französische Familie, Vater, Mutter und ein
kleiner Sohn, ist mit einem Esel unterwegs. Das draußen angebundene Tier wird
von den vielen Teenies gehätschelt und getätschelt, aber es scheint nur seine
Ruhe haben zu wollen.
Der gestrige Traum läßt mich nicht los.
Abends rufe ich Rita an. Ich erzähle ihr, daß ich nach meiner Berechnung
spätestens in zehn Tagen mein Ziel erreichen werde, ich könnte also in zwei
Wochen zu Hause sein.
„Das ist aber ungünstig“, sagt sie. Sie
will in der besagten Zeit mit ihren neuen Freunden zu einem Popkonzert nach
Hamburg fahren und es wäre für uns beide sicher unangenehm, wenn ich nach Hause
komme und sie nicht da ist. Vielleicht könnte ich einige Tage mit Werner in
Spanien verbringen und erst in drei Wochen nach Hause kommen.
Das war es wohl dann!
Sonntag, am 13. Juli
Von Triacastela nach Samos
Bis zum Kloster von Samos sind es nur zehn Kilometer. Heute ist der Tag des Heiligen
Benedikt; er ist der Schutzpatron der Abtei.
Der Weg dahin ist eine einsame
Landstraße. Vom Verkehr oder von der Landschaft kriege ich wenig mit: Ich bin
mit meinen Problemen voll beschäftigt. Was heißt hier „beschäftigt“? Ich fühle
mich erschlagen und vernichtet! Immer wieder muß ich anhalten, um meine
unaufhörlich fließenden Tränen zu trocknen.
Was ist bloß geschehen? Ich kann es
noch
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