Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
Höhe. Der
Wald lichtet sich, Wiesen und einige wenige Roggenfelder künden zwei kleine
Siedlungen an, La Faba und den letzten Ort der Provinz León, Laguna de
Castilla. Die kleinen Ortschaften sind ärmlich, aber bewohnt. Die Bauern leben
fast ausschließlich von der Rinderzucht. Weiter oben ist es auch damit zu Ende:
Auf den sanften Hängen wächst nur noch Ginster, und am Wegrand die
Glockenblume.
Ich suche mir unter einem der hier oben
so seltenen Bäume einen windgeschützten Platz für eine Ruhepause.
Ich muß über so vieles nachdenken.
Meine Reise geht bald zu Ende. Ich habe unterwegs auf viele Fragen Antwort
gesucht und auch bekommen, aber es sind viele neue Fragen aufgetaucht, auch die
müssen beantwortet werden. Vielleicht ist es der natürliche Gang der Dinge: Ein
Zustand, in dem alle Fragen beantwortet sind und keine neuen Fragen mehr
aufkommen, ist nicht mehr von dieser Welt.
Zwei junge Pilger, ein Mädchen und ein
Junge, bleiben, von unten kommend, für eine kurze Weile bei mir stehen. Sie
sind Deutsche und kommen aus St-Jean-Pied-de-Port gelaufen. Als ich erzähle,
daß ich aus Kassel komme, sind sie sofort im Bilde. Sie haben unterwegs viel
von mir gehört und auch meine täglichen Eintragungen in den Gästebüchern
gelesen. Ich bin überrascht, daß ich so einen Ruf erworben habe.
Obwohl, so überraschend ist das nicht:
Auch die anderen Pilgerinnen und Pilger, die von weither kommen, sind unter den
Pilgern bekannt. So höre ich schon seit Wochen über eine junge Holländerin aus
Amersfoort, die mal vor, mal hinter mir laufen soll. „Was, Du hast die
Christine noch nicht getroffen?“ fragen sie mich. Ich bin schon richtig
neugierig, sie zu sehen.
Einige hundert Meter weiter steht ein
großer Grenzstein, der die Grenze von Galicien markiert. Santiago de Compostela
liegt in Galicien!
O Cebreiro ist ein uriges Dörflein in
1300 Meter Höhe. Es ist eine Ansammlung von vielleicht fünfzehn Häusern, die
sich unterhalb der schlichten Kirche Santa María la Real scharen. Viele der
Bauten haben eine archaische runde Form und sind mit einem Kegeldach aus Gras
gedeckt.
Hier, wo vor tausend Jahren die erste
Pilgerherberge des gesamten Jakobsweges stand, soll sich im 13. Jahrhundert das
berühmte „Wunder von Cebreiro“ ereignet haben, bei dem das Opferbrot und der
Wein sich während einer Messe in Fleisch und Blut Christi verwandelt haben. Der
bei der Messe benutzte romanische Kelch sowie zwei Goldfläschchen mit dem Blut
und Körper des Erlösers werden von den Gläubigen heute noch verehrt: An jedem
8. September wird der Gnadenort von etwa dreißigtausend Menschen besucht.
Jetzt ist die kleine Kirche leer und
ich kann mich niederknien und ungestört beten: „Gott, ich danke Dir, daß Du mir
erlaubt hast, diese letzte hohe Hürde vor meinem Ziel zu überwinden. Hilf mir, bitte,
auch die weiteren Hindernisse auf meinem irdischen Pilgerweg zu bewältigen.“
Zwei Häuser weiter ist das einfache
aber stimmungsvolle Lokal „Meson Anton“. Ich bestelle einen Kaffee und lege
meinen Pilgerpaß zum Stempeln vor. Als der Wirt sieht, von wo ich komme und wie
lange ich schon unterwegs bin, nimmt er wortlos eine Flasche Tresterschnaps vom
Regal und stellt ihn neben meine Kaffeetasse.
Da ich bis zur Öffnung der Herberge
noch genügend Zeit habe, lege ich mich ins Gras und schlafe sofort ein.
Ich habe einen schlechten Traum: Ich
bin in Kassel und begegne auf der Straße meiner Frau. Ich grüße sie. Sie
scheint mich aber nicht zu kennen und geht, ohne mich anzuschauen, weiter. Ich
wache auf und bin verstört.
Im Laufe des Nachmittags treffen immer
mehr Pilger ein. Die drei Lokale des Ortes sind voll besetzt. Ich mache meine
Runde, treffe meine schon verloren geglaubten Pilgerfreunde Anna und Jaap,
sowie den spanischen Inhaber der Geheimformel der Templer.
Ein mir unbekannter Schweizer, der auch
von Zuhause gelaufen kommt, fragt mich, ob ich der János bin. Er sagt, daß er
sehr erfreut ist, mir zu begegnen. Er hat schon so viel von mir gehört und auch
meine Bemerkungen in den Gästebüchern mit großem Vergnügen gelesen. Besonders
hat ihn die Tatsache beeindruckt, daß ich in diesen Büchern von so vielen
anderen Pilgern so herzlich gegrüßt worden bin. Er dachte, das muß ein
besonders netter Zeitgenosse sein, den die anderen so oft grüßen.
Ja, was soll ich dazu sagen?
Der Abend ist in dieser Höhe recht
kalt. Ein fast stürmischer Nordwind läßt meine warme Jacke, die ich seit Wochen
nur noch
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