Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
können.
Wir übersteigen als letztes Hindernis
einen Flügel und erreichen unser Tagesziel Villafranca del Bierzo.
Bevor wir die Stadt betreten, kommen wir
an der einfachen romanischen Iglesia de Santiago vorbei. Bemerkenswert ist die
Kirche wegen ihres schönen Nordportals Puerta del Perdón, zu deutsch „Tor der
Vergebung“. Der Name besagt, daß dank eines päpstlichen Dekrets die Pilger, die
aus Gründen von Krankheit oder gar Tod die Reise nicht fortsetzen können, hier
schon die Absolution erhalten, die Befreiung von allen ihren Sünden, die sie
sonst erst in Santiago de Compostela erhalten hätten.
Villafranca besitzt zwei
Pilgerherbergen: eine relativ neue kommunale Einrichtung vor der
Santiago-Kirche und eine andere, private Herberge dahinter. Dieses zweite
Refugio wird von Don Jato und seiner Familie betrieben, und da es mir ein Mönch
damals in Conques empfohlen hatte, steuere ich diese Unterkunft an.
Der erste Eindruck ist verheerend.
Hinter einer verlassenen Empfangsbude steht ein großes chaotisches Gebilde aus
Holzgerüst und Plastikplane, das man mit viel gutem Willen als eine Art
Behausung identifizieren könnte. So etwas kenne ich nur aus dem TV, wenn südamerikanische
Slums gezeigt werden. Anna weigert sich, näher als zwanzig Meter an das Ding
ranzugehen. Wir Europäer sind nicht so pingelig, wir betreten das Zelt.
Vor einer langen Holztheke stehen
Holztische und Bänke aus alten Eisenbahnschwellen. Hinter der Theke stehen zwei
junge Frauen, die uns herzlich begrüßen. Wir bestellen Apfelwein und schauen
uns die „Räumlichkeiten“, d.h. die weiteren Zelte mit den Betten und den
sanitären Anlagen an. Es ist ja alles Nötige vorhanden, wenn auch in einer sehr
einfachen Form. Ich bleibe. Antonía auch. Sandy schüttelt ihren Kopf und geht.
Nach der Tagesroutine laufe ich mit
Antonía in die Stadt hinunter und bin überrascht von der Herrlichkeit der
zahlreichen Bauwerke. Kaum 200 Meter von der Herberge entfernt passieren wir
die stämmige Burg der Markgrafen von Villafranca, einen mit runden Ecktürmen
bewehrten Bau aus dem 16. Jahrhundert.
Die Hauptstraße der Altstadt, die Calle
del Agua, wird von zahlreichen alten Stadtpalästen gesäumt, die von dem
vergangenen Reichtum der Siedlung künden. Die schönen Fassaden, Eingangstore,
weit ausladenden Erker und herrschaftlichen Steinwappen haben sicherlich schon
Millionen Pilger vor mir beeindruckt. Auch die Kirche San Francisco dahinter
befindet sich in dieser Straße und erinnert uns daran, daß der heilige
Franciscus von Assisi uns hier vorangegangen ist und nach der Überlieferung in
dem hiesigen Hospiz übernachtet hat.
Abends gibt es in der Herberge ein
einfaches Pilgermahl: Linsensuppe mit Speck, gebratene Paprikawurst, Tomatensalat,
Rührei mit Brot und jede Menge Rotwein. Als Dessert werden Äpfel aus dem Garten
serviert. Die Stimmung ist auffallend gut, was auch mit der überschaubaren
Anzahl der anwesenden Pilger, die bereit sind, sich auf Ungewöhnliches
einzulassen, zu erklären ist. Obwohl die Konversation in babylonischer
Vielsprachigkeit geführt wird, habe ich nach zwei Gläser Wein keinerlei
Schwierigkeiten, daran teilzunehmen.
Donnerstag, am 10. Juli
Von Villafranca del Bierzo nach Vega del Valcarce
Die Nacht habe
ich unruhig verbracht und daran ist nicht diese etwas merkwürdige Herberge,
sondern meine Obstorgie an dem gestrigen Vormittag schuld. So habe ich auf dem
Örtchen fast so viel Zeit verbracht wie in meinem Schlafsack. Jetzt bin ich
ziemlich geschwächt und anstelle von Frühstück begnüge ich mich mit einem
dünnen Tee.
Das reichhaltige Frühstück wird
umsonst, besser gesagt gegen eine geringe Spende offeriert. Antonía wäre nicht
sie selbst, wenn sie sich nicht genauestens erkundigte, ob das mit der Spende
auch funktioniert. Nun, damit steht es nicht zum besten: Viele Menschen
schlafen hier und lassen sich bewirten, ohne auch nur einen einzigen Pfennig in
das Kästchen zu werfen. Ich kann das nicht verstehen, besonders deswegen nicht,
weil neben diesem Zeltverschlag eine Baustelle steht, wo die Familie Jato
versucht, aus der Ruine einer alten, aus dem 12. Jahrhundert stammenden
Herberge eine neue entstehen zu lassen, und in mehrsprachigen Anschlägen dafür
um Spenden bittet.
Nicht nur ich, auch Antonía hat
Beschwerden. Schon gestern hat sie sich über Rückenschmerzen beklagt. Als Herr
Jato in der Frühe davon erfährt, bietet er ihr seine Hilfe an. Er ist nämlich
ein Heiler.
Er setzt
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