Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
evakuiert. Sie befindet sich in der Unterkirche, in
einem schmuck- und stillosen Kellerraum. Hier hat die Messe eben angefangen und
ich bleibe bis zum Schluß dabei. Es ist Jahre, wenn nicht Jahrzehnte her, daß
ich eine Messe besucht habe. Ich kann es noch nicht sagen, wie es mir dabei
jetzt geht. Verloren ist die Zeit jedenfalls nicht.
Vor dem Einschlafen denke ich noch, daß
es ein Fehler war, Pia und Rudi so schnell zu verabschieden. Ich würde gern
ihnen mal bei Gelegenheit eine Karte schreiben, aber ich weiß nicht mal, wo sie
wohnen.
Mittwoch, am 26. März
Von Einsiedeln nach Goldau
Nach dem guten Frühstückbin ich für großen Taten bereit. Das muß ich auch sein:
Nach der Stadt geht es gleich ziemlich steil aufwärts. Erst muß ich also zu dem
Bergpaß Chatzenstrick hochsteigen. (Hier werden übrigens die Eigennamen, die
bei uns mit dem Buchstabe K anfangen,
mit Ch geschrieben). Ein
schmale asphaltierte Straße windet sich an gepflegten Berghöfen, Wiesen und
Waldstücken vorbei nach oben, wo ein Wirtshaus und eine kleine Kapelle mit
einer Bank davor die Wanderer für eine kurze Ruhepause einladen. Dabei darf man
die weite, herzerfreuende Aussicht zurück nach Einsiedeln genießen. Die breiten
Hänge leuchten goldgelb von den abertausenden Schlüsselblumen.
Der Bergkamm steigt allerdings höher,
als ich auf der Karte ersehen habe. So besteige ich im an manchen Stellen kniehohen
Schnee unplanmäßig die Bergkuppe Chrüzweid, wo, wie der Name schon sagt, auf
einer Weide ein hohes Gipfelkreuz steht. Von hier brauche ich nur noch nach
Rothenthurm abzusteigen. Der Fußpfad ist leicht gefunden, ich sehe schon das
Dorf tief im Tal... Plötzlich stehe ich vor einer Hinweistafel:
„ Schießübunganzeige“
Ich lese, daß das Militär vom 1.
Februar bis 30. April ausgerechnet hier, wo ich absteigen möchte, Schießübungen
veranstaltet. Die beiliegende Landkarte läßt mir keine Ausweichmöglichkeiten
offen, danach ist nämlich der ganze Berghang bis nach Rothenthurm gesperrt.
„Was soll’s?“ denke ich, „sie werden
doch nicht jeden Tag hier schießen?“ und setze meinen Weg fort. Einige hundert
Meter weiter ein neues Schild:
„Halt!
Lebensgefahr! Durchgang verboten!“
Ich bleibe stehen und überlege, ob ich
vielleicht auch diese Warnung ignorieren soll, als ich relativ nah peitschende
Gewehrsalven vernehme. Damit ist die Frage, ob ich weiterlaufen soll oder
nicht, eindeutig beantwortet.
Verflixt, was mache ich jetzt bloß?
Nach unten kann ich hier jedenfalls nicht! Ich könnte so lange hier oben
weiterlaufen, bis das Sperrgebiet zu Ende ist, aber der Kamm steigt über 1500
Meter hoch und ich will nach Santiago, nicht in den Himmel!
Die andere Möglichkeit ist nach
Einsiedeln zurück zu laufen und von dort mit der Bahn, die den ganzen Berg
umrundet, bis zu diesem Dorf zu fahren, das zum Greifen nah unter mir liegt.
Ich wähle diese zweite Variante und so stehe ich nach drei Stunden Anstrengung
wieder exakt vor dem Hotel am Bahnhof, wo ich heute früh losgelaufen bin.
Von Rothenthurm bis zu meinem Tagesziel
in Goldau ist die Straße asphaltiert. Nach einer kleinen Steigung bis zum Dorf
Sattel senkt sich die Landstraße, auf der ich laufe, in den nächsten zehn
Kilometer kontinuierlich etwa vierhundert Meter. Da die Straße wenig Verkehr
führt, ist das Laufen an diesem sonnigen Nachmittag ein Genuß, der von der
herrlichen Aussicht auf die in milchiges Nachmittagslicht getauchte Landschaft
noch gesteigert wird. Links von mir ist ein weites Tal, in dem der Lauerzer See
ruht, dahinter die großartige Kulisse der schneebedeckten gezackten Berge. Von
vorn winkt schon das riesige dreieckförmige Bergmassiv des Rigi.
Donnerstag, am 27. März
Von Goldau nach Luzern
Mein Bett hatte eine leichte Neigung in Richtung Südwest. Ich bin unausgeruht und
mürrisch. Pünktlich zum Start fängt es auch noch an zu regnen.
Ich laufe nach Arth, einer hübschen
Gemeinde am Ufer des Zuger Sees, in deren Ortsmitte eine große Barockkirche zu
sehen ist. Ich nutze die Gelegenheit und versuche, zu beten. Als ich aus der
Kirche ins Freie hinaustrete, ist es noch grau und diesig, aber es regnet nicht
mehr.
Weiter geht es am Seeufer, wo die
Nordostflanke des Rigi steil in den See hinunter fällt. Der schmale Uferstreifen
wird von einer Autobahn, einer Bahnlinie und einer Landstraße geteilt. Von
dieser Landstraße ist mit Farbmarkierung eine Fahrradspur abgetrennt, auf der
ich jetzt laufe.
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