Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
Flügenegg erreiche ich so einen
Reiterhof mit einem großen Fachwerkbau. Vor diesem Haus sehe ich einen
Wegweiser, auf dem ich lesen kann:
„ 1925 km nach Santiago de
Compostela“
Na also! Ich komme ja näher! Dies ist
der erste Hinweis auf mein Reiseziel und damit für mich etwas besonderes.
Gleichzeitig entdecke ich neue Frühlingsboten, die dieses Hinweis verstärken:
die ersten gelben Löwenzahnblüten und die ersten Kühe, die auf die Wiese hinaus
gelassen wurden.
Das einzige „Hotel“ in Münchwilen ist
nach der gestrigen schon schlechten Unterkunft eine weitere Negativsteigerung.
Mein Zimmer hat weder einen Tisch noch Wasser, weder eine Leselampe noch einen
Kleiderhaken, dafür aber zwei Kleiderschränke, einer allerdings, in Teile
zerlegt, gegen die Wand gelehnt. Auch zwei übereinander stehende kaputte
Fernsehgeräte und die drei Nachtschränkchen erhöhen nur geringfügig den
Komfort. Dieser Abstellraum wird als Gästezimmer für 56 Mark feilgeboten! Das
erste Mal, seit ich unterwegs bin, wasche ich heute abend meine Unterwäsche
nicht, weil das Waschbecken in dem sogenannten Bad so schmutzig ist, daß ich
mich davor ekele.
Sonntag, am 23. März
Von Münchwilen nach Gibswil
Nur durch eine dünne Bretterwand von mir getrennt, hat ein unbekannter Schnarcher
meinen Schlaf und meine Nerven geraubt. Ich merke, wie diese schmuddelige Verkommenheit
mich überfordert. Dies war wahrhaftig der schlimmste Kaninchenstall, wofür ich
je bezahlt habe, und das, wie bereits erwähnt, nicht zu knapp. Hoffentlich
überstehe ich die Reise durch das vornehme Reiseland Schweiz, ohne dabei
körperlich oder seelisch krank zu werden.
Die barocke Klosteranlage der
Benediktinermönche von Fischingen schließt das Tal der Murg, wo es enger wird,
wie ein Riegel ab. Der mächtige Kirchbau mit dem hohen Turm und der kuppelgekrönten
Kapelle thront, das kleine Straßendorf beherrschend, auf einer Terrasse. In der
Kapelle befindet sich das Grab der heiligen Idda. Diese relativ unbekannte
Lokalheilige soll im 15. Jahrhundert hier in der Nähe als Ehefrau des Grafen
von Toggenburg gelebt haben. Eines Tages, als sie ihren Schmuck auf die
Fensterbank gelegt hatte, stahl ein Rabe ihren Ehering und flog damit in den
Wald. Dort wurde einige Zeit später das gute Stück von einem Jäger gefunden,
der diesen Ring stolz herumzeigte. Als der Graf dies erfuhr, bezichtigte er
seine Ehefrau der Untreue, und in seiner Wut warf er sie eine Schlucht
hinunter. In ihrer Todesangst schwor sie für den Fall, daß sie errettet würde,
ein frommes Leben im Gebet und in Keuschheit zu führen. Sie überstand den Sturz
unverletzt. Danach lebte sie wie eine Nonne zurückgezogen und sie wurde schon
zu Lebzeiten von der Bevölkerung der Umgebung hoch verehrt. Nach ihrem Tod galt
sie als wundertätige Heilerin von Fußbeschwerden und so wurde ihr Grab
besonders von den hier durchziehenden Pilgern gern besucht. In ihrem Grabmal,
das auch heute noch in der prunkvollen Seitenkapelle zu sehen ist, befindet
sich an der Vorderseite unten eine kleine Öffnung. Die Heilsuchenden können vor
dieser Nische auf einem Hocker Platz nehmen und die kranken Füße in das Loch
hineinstecken. Das Beten in dieser Position soll die Heilwirkung ungemein
erhöhen.
In dem engen Tal hinter dem Kloster
laufe ich weiter aufwärts bis zu dem kleinen Dorf Au, wo der Pilger von der
zwiebeltürmigen, der heiligen Anna geweihten Kirche begrüßt wird. Ab hier ist
es dann Schluß mit lustig! Der schmale Feldweg wird steil und verwandelt sich
bald in einen Fußpfad, auf dem stellenweise Treppenstufen angelegt sind, oder
dienen die Baumwurzeln als Stufen. Auch hier sind in Jahrhunderten mehrere
parallele Hohlwege ausgetreten und ausgefahren worden, die jetzt teilweise noch
benutzt, teilweise wieder zugewachsen, aber noch sichtbar sind.
Welch’ eine Freude müssen die Pilger in
den alten Zeiten empfunden haben, als sie nach dieser Steigung oben ankamen,
und das einladende Gasthaus mit Herberge „Zum Kreuz“ erblickten? Nun, diese
Frage kann ich ganz genau beantworten. Das Gasthaus steht heute noch da und ist
sogar geöffnet! Eine gute Gelegenheit, mich ein bißchen auszuruhen und zu
erfrischen.
In der Gaststube sitzen viele Gäste. Da
man mit dem Auto bis hierher hochfahren kann, nutzen die frühlingshungrigen
Menschen den heutigen Sonntag für einen kleinen Spaziergang. Richtige Wanderer
wandern anderswo. So errege ich mit meinem großen Rucksack beim Betreten
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