Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
Schlafen ist dieser Umstand nicht ungünstig,
auch ich kann mich als allein anwesend betrachten.
Das Wetter ist dem Sterbetag des
Gottessohnes angemessen: Der Himmel ist dunkelgrau, und es regnet, und zwar
waagerecht, da ein steifer Nordwest das Wasser vor sich herbläst. Ich bin etwas
ratlos, was das heutige Programm betrifft. Der kalte Regen nimmt mir die Lust,
das Gebäude zu verlassen. So bleibe ich in der Herberge, und schreibe einige
Briefe und Karten.
Bis zwölf Uhr sind alle Briefe
geschrieben, aber es regnet noch immer, sogar noch kräftiger als vorher.
Jetzt ist Schluß! Zur Stadtbesichtigung
habe ich so keine Lust, aber im Regen zu laufen, da habe ich eine gewisse
Übung. Ich stelle meine Planung um: Ich laufe heute weiter, die Stadt
besichtige ich lieber morgen. Das Wetter kann morgen nur besser werden. Ich
ziehe meine Regenklamotten an und springe ins Vergnügen.
So wie die Strecke, auf der ich gestern
in die Stadt gekommen bin, ausgesprochen schön war, so häßlich ist die Gegend,
in der mein Wanderweg aus Luzern hinausführt. Links der Kanal, rechts
Industriegleise, Fabriken, eine stinkende Kläranlage. In einer Gießerei wird
auch heute, am Karfreitag, gearbeitet. Es dröhnt, zischt und dampft.
Schöner wird es erst anderthalb Stunden
später bei Littau. Hier verläuft der Fußpfad in einem schmalen Waldstreifen
parallel zum Ufer. Man hat das Gefühl, in einem tiefen Wald zu sein.
Weit sichtbar ist der auffallend spitze
Turm der Dorfkirche von Malters. Der sticht in den Himmel wie eine
Insektennadel, auf die präparierte Wolken aufgesteckt werden sollen. Ich gehe
in die Kirche, will sie eigentlich nur besichtigen, aber als ich sehe, daß bald
eine Messe anfangen soll, setze ich mich in die hinterste Reihe und warte, daß
es losgeht. Erst aber kommen immer noch mehr Menschen und offenbar hat hier
jeder seinen festen Platz, weil plötzlich ein alter Herr erwartungsvoll neben
mir steht. Ich stehe auf und will ihm den Platz überlassen:
„Es ist sicher Ihr Platz. Ich suche mir
einen anderen.“
„Ich habe es nicht gekauft!“ knurrt er,
und setzt sich woanders hin. Meine Sitznachbarn schauen mich etwas vorwurfsvoll
von der Seite an. Endlich fängt die Messe an. Als ich ein Kind war, haben wir
in der Schule im Religionsunterricht ein ganzes Jahr „Liturgie“ lernen müssen,
also die Lehre über Form und Ablauf religiöser Handlungen in der katholischen
Kirche. Das waren laute dogmatische Regeln, aber sie galten seit hunderten von
Jahren, und man hatte die Gewißheit, daß sie auch noch in den nächsten
Jahrhunderten gelten werden, und zwar auf der ganzen Welt. Seitdem ist kaum die
Hälfte eines Jahrhunderts vergangen, und kaum eines der damals gelernten und
verinnerlichten Dinge hat heute noch Gültigkeit. Ich habe damit meine
Schwierigkeiten.
Da kommt der Priester mit sieben
Ministranten einmarschiert. Kein Glöckchen vor der Sakristei, keine
Orgelklänge. Die Gemeinde ist unsicher, ob sie aufzustehen hat oder nicht,
einer geht nach dem anderen, ein heilloses Aufstehen und Setzen ist die Folge.
Von den sieben Ministranten (übrigens, wieso sieben?) sind fünf Mädchen, alle stecken
statt in Ministrantenhemden in kleinen Mönchsgewändern. Sie setzen sich ohne
Kommentar auf Stühle, die im Chor bereitstehen. Erst passiert nichts.
Vielleicht beten sie? Wenn ja, warum nicht laut und öffentlich?
Dann erhebt sich eine junge Dame, die bis
jetzt allein und abseits, wie auf einer Anklagebank, gesessen hat, von ihrem
Stuhl und liest das Evangelium. Aber nur bis zur Hälfte. Dann wird erstmal
gesungen. Nach dem Lied kommt ein junger Mann von der anderen Seite und liest
den Johannes weiter. Diesen Regietrick haben sie sicher vom TV abgeguckt:
„Jetzt eine kurze Musikeinlage, danach unterhalten wir uns weiter über die
Brandkatastrophe!“
Ich bin innerlich verkrampft. Plötzlich
fällt mir auch noch ein, daß ich mein Handy, das in meiner Hosentasche steckt,
vergessen habe auszuschalten. Von dem Gedanke, daß mich jemand jetzt anklingeln
könnte, bekomme ich Schweißperlen, und so verlasse ich bei der nächsten
Musikeinlage die Veranstaltung.
Weiter an dem Fluß entlang über Wiesen
und durch Auwälder komme ich nach Werthenstein, wo das eng gewordene Tal von
einem Felsriegel fast versperrt ist. Oben auf diesem Sporn steht eine
malerische Klosteranlage mit einer schönen Kirche. Ich würde gern hochlaufen,
wenn es nicht so regnen würde. So trachte ich lieber, möglichst rasch nach
Wolhusen zu
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