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Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Titel: Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: János Kertész
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zerschlagen wurden,
erdachte man eine Brücke mit Sollbruchstellen: Um Wind und Wellen keine
Angriffsfläche zu bieten, wurden Pfähle in den Boden geschlagen und aus je zwei
Pfählen mit einem Querbalken Rahmen geschaffen. Nur diese Rahmenjoche sind fest
gewesen, die Bohlen, die man auf diese Rahmen auflegte, waren lose, damit sie
beim Sturmwetter nachgeben. Das Passieren der langen, geländerlosen Brücke war
also nicht ganz ungefährlich, zumal die wenigsten Menschen damals schwimmen
konnten. Den Passanten wurde empfohlen im Fall eines plötzlich aufkommenden
Sturmes sich flach auf die Bretter zu legen und abwarten, bis die Naturgewalten
nachlassen. Vor und nach dieser Brücke gaben zwei Kapellen den Brückenbenutzern
die Gelegenheit, mit einem Gebet himmlischen Beistand für die gefährliche
Unternehmung zu erbitten.
    Nun, das ist alles nur noch Geschichte.
Der See wird heute an derselben Stelle, wo früher diese Holzbrücke stand, von
einem breiten Deich zerschnitten, auf dessen Krone eine Straße und eine
Eisenbahnlinie über das breite Wasser führen. Auf den Boden zu legen braucht
man sich auch nicht mehr, Gefahr besteht höchstens durch den tosenden Verkehr.
Ich sehe zu, daß ich schnell zum anderen Ufer komme.
    Hinter den letzten Häusern von
Pfäffikon wird es schnell steil und steiler. Nach einigen Wiesen, die ich
überquere, begibt sich der Fußpfad in einen Bergwald. Auch hier sind oft
Treppenstufen angelegt, um das Steigen zu erleichtern. In früheren Zeiten hat
sich hier der nach Einsiedeln strebende Pilgerstrom gebündelt: Zahlreiche
Spuren von alten Hohlwegen, manche vier bis fünf Meter tief, begleiten mich
nach oben.
    Heute will es gar nicht hell werden.
Niedrige, dunkle Wolken verfinstern den Tag, und kaum daß ich in den Hang
einsteige, fängt es an zu regnen. Der Spur ist verschlammt und glitschig. Mit
meinem schweren Rucksack rutsche ich nach drei Vorwärtsschritten einen Schritt
zurück. Jetzt bieten mir die zwei Wanderstöcke, deretwegen ich auf dem ganzen
langen Weg viel Spott ertragen mußte, eine besonders große Hilfe, um die
Balance zu halten. Ich kämpfe, keuche, schwitze und schlittere. Ein Genuß ist
das nicht und ich hadere mit meinem Schicksal. Warum regnet es ausgerechnet jetzt?
Hier ist bei gutem Wetter sicher eine wunderschöne Sicht zurück auf den See zu
genießen, der jetzt unter grauen klitschnassen Wolken verschwindet. Es ist ein
Jammer!
    Bevor ich mich so richtig bedauern
kann, passiere ich am Rand einer Wiese eine kleine hölzerne Imkerhütte mit
buntbemalten Einflugsöffnungen. An der Eingangstür ist der Spruch zu lesen:
     
    „Macht nur
die Augen auf: alles ist schön!“
     
    Und wahrhaftig: Ich entdecke, wie die
tieffliegenden Wolken zwischen den Ästen der alten Fichten wie Geister lautlos
dahinschleichen und den Wald märchenhaft und geheimnisvoll verklären. Die
Baumwurzeln sind doch nicht zufällig so gewachsen, daß sie mir auf dem Pfad als
Stufen dienen! Sie werden mir von meinen Brüdern, den Bäumen, mit voller
Absicht als Steighilfe dargeboten! Und die kleinen Schlüsselblumen? Haben sie
mich nicht, als ich eben vorbeiging, mit Kopfnicken gegrüßt? Alle diese
Geschöpfe Gottes freuen sich über den Regen. Wie könnte ich mich von diesem
Gefühl ausschließen?
    Ich erreiche die Paßhöhe von St.
Meinrad, wo ein Wirtshaus und eine Kapelle seit uralten Zeiten den Körper und
Geist der Pilger erfreuen. Das Wirtshaus ist zu, die Kapelle ist geöffnet.
Umgekehrt wäre es auch nicht schlecht.
    Hier oben treffe ich die ersten Pilger
meiner Reise. Der Mann hat einen langen Pilgerstab mit einer angebundenen
Jakobsmuschel. Wir freuen uns über diese unerwartete Begegnung. Pia und Rudi
kommen aus Süddeutschland. Sie laufen diesmal leider nur bis Einsiedeln, als
„Urlaubspilger“, so daß meine Freude darüber, in den nächsten Tagen
Gesellschaft zu haben, zu früh gewesen ist. Die wenigen Kilometern bis
Einsiedeln laufen wir aber zusammen. Bald sehen wir die Türme der
Klosterkirche. Vorbei an der romanischen Kapelle St. Gangulf, der ältesten
Kirche der Umgebung, erreichen wir das Benediktinerkloster von Einsiedeln. Da
es noch immer kräftig regnet, ist unser Abschied unangemessen rasch. Sie suchen
erst ein Quartier, ich gehe erst in die Kirche.
    Das Innere der Kirche gleicht einer
Baustelle. Große Teile des Raumes sind eingerüstet, man kann die farbige
Barockherrlichkeit nur erahnen. Auch die berühmte schwarze Madonna ist wegen
den Renovierungsarbeiten

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