Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
Zum Glück fahren hier unten nur wenige Autos, die meisten
bevorzugen die auf Stelzen gebaute Autobahn. Der See ist vom Winterschlaf noch
nicht erwacht, die Sommerhäuser und Bootsanlegestellen sind noch verlassen, nur
die Enten und Bleßhühner treffen ihre ersten Hochzeitsvorbereitungen.
In Immensee fängt es wieder zu nieseln
an. Ich stelle mich unter ein Scheunenvordach und beobachte die Regentropfen,
die auf den Boden fallen. Soll ich mein Regenzeug anziehen oder hört es wieder
auf zu regnen? In dem Augenblick bremst ein Auto neben mir, eine junge Frau
steigt aus und fragt, ob alles in Ordnung ist. Ich verstehe ihre Frage nicht.
Sie sagt, wie sie mich mit gesenktem Kopf da stehen gesehen habe, habe sie
gedacht, daß es mir schlecht geworden sei. Ich bedanke mich für ihre Fürsorge
und setze meinen Weg mit dem guten Gefühl fort, in einem Notfall mit der
Hilfsbereitschaft der Menschen rechnen zu können.
Ich durchquere Küssnacht. Danach
benutze ich die Landstraße, aber hier sind die Ortschaften zusammengewachsen
und so sind überall Gehwege vorhanden. Ab Meggen darf ich die Autoroute verlassen,
von hier führt ein Wanderweg nach Luzern. Nach der Wanderkarte ist es ein
schöner Uferweg am Vierwaldstätter See, aber man sollte sich nie zu früh
freuen. Jeder Meter des Ufers ist mit herrschaftlichen Villen und Schlössern
zugebaut. Der Wanderweg wird hinter diesen parkartigen Grundstücken mal in die
Höhe, dann wieder in die Tiefe geführt, wie eine Achterbahn. Sicher, es ist
eine schöne Strecke, um zwischen Mittags- und Kaffeetisch den Hund spazieren zu
führen, aber ich habe mir die Beine heute schon genügend vertreten.
Irgendwann ist aber auch dieses
Wegstück geschafft und ich erreiche die Vororte von Luzern, wo vornehme Hotels
die ufernahe Parkanlage begleiten. Inzwischen ist die Sonne herausgekommen, die
Parkbänke sind besetzt. Die Menschen schauen mir interessiert zu, wie ich mit
meinem schweren Rucksack und mit den Wanderstöcken die Innenstadt zustrebe.
Der erste Eindruck, der sich mir in
Luzern förmlich aufdrängt, ist des großen sichtbaren Reichtums. Hotelpaläste,
Luxuslimousinen, Yachten, Geschäfte, alles vom Feinsten! Trotz meiner Müdigkeit
und schwerer Last auf dem Rücken bleibe ich vor manchen Schaufenstern stehen
und staune wie einer, der aus dem Wald gekommen ist. Uhren aller nur
erdenklichen Marken, Antiquitäten wie im Museum, Mode, Kosmetik, alles was das
Herz und eine dicke Geldbörse begehren kann.
Da morgen, am Karfreitag, die Geschäfte
geschlossen sind, kaufe ich mir in einem Supermarkt Brot, Käse, Obst. Ich
überlege, ob ich noch etwas brauche, als jemand hinter mir ruft: „Auf nach
Santiago!“
Man kann sich vorstellen, wie schnell
ich mich umdrehe und wie groß meine Überraschung ist, als ich Rudi, den Pilger
aus Einsiedeln, erblicke! Bald ist auch Pia da und wir freuen uns über das
unerwartete Wiedersehen. Sie wollen hier, bevor sie nach Hause fahren,
Verwandte besuchen. Sie erzählen, auch sie hätten es bedauert, daß wir uns in Einsiedeln so rasch verabschiedet haben.
Jetzt tauschen wir unsere Adressen und versprechen, weiter in Kontakt zu
bleiben.
Die Jugendherberge ist gut besetzt und dementsprechend
etwas unruhig und abgenutzt. Es gibt hier Doppelzimmer mit WC und Dusche für
110 Mark. In einer Jugendherberge, wohlgemerkt. Ich nehme ein Bett in einem
Sechsbettzimmer für 36. Ob diese Preise noch jugendgerecht sind? Vielleicht
hier in Luzern schon. In der Rezeption liegen Prospekte für die Jugend zur
Mitnahme bereit: „Ratschläge für
Aktienkauf“.
Ich will morgen Luzern besichtigen und
erst übermorgen nach Wolhusen weiterlaufen. Da ich befürchte, daß die
Gasthäuser an den Osterfeiertagen belegt sind, versuche ich heute abend, für
die nächsten Tage telefonisch Zimmer zu bestellen. Meine Befürchtung ist
berechtigt, alle in Frage kommenden Häuser sind belegt.
In meiner Not komme ich auf diese
Lösung: Ich nehme in dieser Jugendherberge für drei Nächte Unterkunft.
Übermorgen muß ich zum Schlafen aus Wolhusen mit der Bahn hierher zurückfahren.
Es ist zwar wieder ein Verstoß gegen die Pilgerehre, aber mir fällt nichts
Besseres ein.
Freitag, a m 28. März
Von Luzern nach Wolhusen
Meine zwei Zimmernachbarn sind ganz junge Kerle. Ich weiß nicht, ob es heute in ist, aber sie grüßen nicht, sie
sagen nichts, sie bewegen sich in diesem engen Zimmer so, als ob die anderen
nicht vorhanden wären. Das ist wohl, was man cool nennt. Zum
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