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Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Titel: Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: János Kertész
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der
Gaststube ein gewisses Aufsehen.
    Als meine Tischnachbam erfahren, daß
ich schon seit fünf Wochen unterwegs bin, werde ich bestaunt und hoch gelobt.
Eine Dame erzählt über ihren Großvater, der als junger Mann nach Rom gepilgert
war.
    Dort ist er in die Schweizer Garde
eingetreten, in der er über zwanzig Jahre Dienst getan hat, bis er als
Hauptmann mit einem guten Ruhegehalt verabschiedet wurde. Nach seiner Rückkehr
in die Heimat hat er mit sechsundvierzig Jahren geheiratet und noch vierzehn
Kindern gezeugt, das letzte mit vierundsechzig Jahren!
    Nein, denke ich, ich bin zwar auch ein
Pilger, mein Weg ist viel weiter als der nach Rom, aber das mit den vierzehn
Kindern, das schaffe ich nicht mehr!
    Ich muß noch etwas höher steigen,
entlang der bewaldeten Ostflanke der Bergkuppe Hörnli, bevor es wieder abwärts
in das tiefe Tal der Jona hinuntergeht. Oben liegt Neuschnee, es ist auch
merklich kälter. Der steile Abstiegsweg an den Wiesenhängen, wo die gelben
Schlüsselblumen blühen, vorbei an einzelnen gepflegten Berghöfen, führt mich
durch eine Bilderbuchlandschaft. Ich entdecke mit dieser Reise immer wieder
neu, wie diese friedliche bäuerliche Szenerie mein Herz erfreut!
    Am Rand einer Wiese steht ein
schlichtes Denkmal, eine einfach geschnitzte Holzsäule, mit Dachziegeln gegen
die Witterung geschützt. Unter einer Jakobsmuschel sind die lapidare Zeichen zu
lesen:
     
    Erich Müller
† 12.9.95.
     
    Der kleine, vertrocknete Kranz zeigt,
daß hier offensichtlich ein Pilger unterwegs verstorben ist. Ich bleibe eine
Weile stehen, bete ein wortloses Gebet für den mir unbekannten Pilgerbruder.
Dann schweift mein Blick über die friedvolle Umgebung und ich denke, zwar ist
das Sterben immer etwas Trauriges, aber für einen Pilger gibt es sicher einen schlimmeren
Tod, als hier von der Welt einen kurzen Abschied zu nehmen.
    Die letzten steilen Kilometer hinunter
bis Steg lassen meine Knie heftig gegen diese Strapaze protestieren. So bin ich
erleichtert, den Talboden erreicht zu haben, obwohl ich noch nicht an meinem
Tagesziel angekommen bin. In Steg gibt es leider keine
Übernachtungsmöglichkeit, ich muß bis Gibswil weiterlaufen. Das sind noch etwa
anderthalb Stunden auf der Landstraße. Dementsprechend bin ich nach diesem
langen Wandertag wohltuend müde und gehe sehr früh schlafen.
     
     

Montag, am 24. März
Von Gibswil nach Rapperswil
    Nachts tat mir das linke Knie arg weh. Es regnet still vor sich hin.
    Das enge Tal weitet sich. Ich laufe auf
einer asphaltierten Nebenstraße über sanfthügelige Wiesenlandschaften, die aber
immer wieder von diesen tief eingeschnittenen schluchtartigen Tälern der quer
zu meiner Laufrichtung verlaufenden Bäche unterbrochen wird.
    In dem kleinen Dorf Blattenbach steht
der stattliche Bau der ehemaligen Pilgerherberge „Zum roten Schwert“, die im
frühen 17. Jahrhundert für Pilger, die nach Einsiedeln wollten, hier erbaut
wurde. Neben dem Eingang links und rechts ist ein Pilgerspruch zu lesen, der in
Versform den Zusammenhang zwischen Pilgerweg und Lebensweg der Menschen
anspricht:
     
    „Der gestrige Tag, der ist vergangen,
    lasst uns den hütigen anfangen,
    Der Mensch gar liechtlich fällt zu
grund,
    muss sterben, weiss nicht welche stund.
    Mein Wandel soll in Himmel sein,
    Obschon ich leb auf Erden,
    Ein Pilger bin ich hier, allein
    Dort hoff ich Bürger werden.“
     
    Ich erreiche die Stadt Jona. Die
Jugendherberge liegt etwas außerhalb in Russkirch, nur durch einen breiten
Wiesenstreifen von dem Obersee getrennt. Ich bekomme ein schönes Zimmer mit
Balkon, von dem ich gute Sicht auf den hinter dem See quer liegenden, etwa 1000
Meter hohen Bergrücken Etzel habe. Hinter diesem Berg liegt Einsiedeln, mein
morgiges Tagesziel. Das obere Drittel des Berges ist weiß: Hier unten regnet,
dort oben schneit es.

Dienstag, am 25. März
Von Rapperswil nach Einsiedeln
    Die Stadt Rapperswil ist auf dem Pilgerweg nach Einsiedeln seit uralten Zeiten
eine der wichtigsten Stationen gewesen. Hier fanden die Durchreisenden
Unterkunft in ausreichender Zahl, hier konnten sie sich für die letzte Etappe
mit Speis und Trank versorgen, bevor sie auf einer primitiven Holzbrücke den
Zürichsee nach Süden überquerten. Hier, wo der Obersee und der Zürichsee
zusammentreffen, ist die Wassertiefe so gering, daß es schon im 14. Jahrhundert
möglich war, hier einen etwa 1500 Meter langen Holzsteg zu errichten. Da die
ersten Konstruktionen von den Herbststürmen immer wieder

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