Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
kommen, wo ich in den Zug steige und nach Luzern zurückfahre.
Wenn es sich vermeiden läßt, werde ich
in der Zukunft auf diese Lösung der Unterkunftsfrage nicht wieder
zurückgreifen. Diese Hin- und Herfahrerei nimmt das Wesentliche der
Fußpilgerei, das langsame, aber stetige Vorankommen. Man kommt abends an, und
am nächsten Tag läuft man weiter. Diese einfache, gleichförmige Routine ist ein
wesentlicher Bestandteil einer solchen Wanderung.
Samstag, am 29. März
In Luzern
Eigentlich habe ich bis auf einem
kleinen Zwischenfall ganz gut geschlafen. Einer der
schweigsamen Jünglinge hat um halb vier in der Nacht in dem vollbesetzten
Schlafraum zu rauchen angefangen. Auf diese Idee muß man erst kommen! Als ich
von dem Gestank aufwachte und ihn bat, wenn er nachts unbedingt rauchen möchte,
das Zimmer zu verlassen, hat dieses autistische Subjekt sich erstmals bemüht,
den Mund aufzumachen, indem er fragte: „Wieso?“
Nein, auf diese Frage in der Nacht bin
ich nicht vorbereitet gewesen! So sah ich mich gezwungen, ihm einen Schlag auf
die Fresse anzudrohen. Das hat er offensichtlich verstanden. Seitdem raucht und
spricht er nicht mehr.
Das Wetter in der Frühe ist nicht viel
besser als es gestern war. Tiefe graue Wolken ziehen eilig auf ihren Bahnen
nach Osten. Ein Schneeschauer jagt den anderen. Aber was soll’s? Luzern soll im
Winter besonders malerisch sein. Ich laufe in die Stadt, um einen meiner
Kinderträume zu erfüllen.
Bei uns zu Hause, in meinem Elternhaus,
gab es viele Bücher. Die Romane gehörten meiner Mutter, die Reiseliteratur
wurde von meinem Vater angesammelt. Im zarten Alter, in dem ich für Romane noch
nicht reif genug war, ist es meine Lieblingsbeschäftigung gewesen, in den
Büchern meines Vaters nach Bildern zu suchen. Mit der Zeit kannte ich mich in
vielen dieser Bücher recht gut aus, und bestimmte Bilder fand ich, wenn ich sie
suchte, auf Anhieb.
Manche Bilder fand ich beängstigend, ja
abscheulich, trotzdem zogen sie mich magisch an, und ich mußte sie immer wieder
anschauen. So ein Bild war beispielsweise ein Portrait eines Afrikaners, dessen
Gesicht wild bemalt war, und wovon es mir heute noch kalt über den Rücken
läuft, wenn ich daran denke: Er zeigte seine spitzgefeilten Zähne, so als ob er
mich beißen wollte.
Es gab aber auch die anderen Bilder,
meine Lieblingsbilder. Wenn ich sie betrachtete, waren es keine Bilder mehr,
sondern Kulissen für meine Tagträume. Ich kann es heute nicht mehr sagen, wieso
ein Bild in die Reihe meiner Lieblingsbilder Aufnahme fand, aber wenn es dann
dazu gehörte, bekam es von mir das damals noch kindliche Versprechen: Wenn ich
mal groß werde, werde ich es besuchen.
Nun, es sind inzwischen über fünfzig
Jahre vergangen, und ich habe mein Versprechen bis auf zwei Bilder eingehalten.
Ich lief über den Pont du Gard, habe in Plitvica meine Hände in den
Wasserfällen gewaschen, im Prater das Riesenrad bestiegen, und in Kopenhagen
die kleine Seejungfrau gestreichelt, um nur einige dieser Besuche zu erwähnen.
Zwei dieser Verabredungen stehen noch aus.
Erstens ein Franziskus-Brunnen in
Mailand. Es soll ein einfaches rundes Wasserbecken sein. Daneben steht ein
bronzener Franziskus, wie er mit den trinkenden bronzenen Vögeln spricht. Ich
bin noch nie in Mailand gewesen und weiß nicht mal, ob dieser Brunnen noch
steht.
Zweitens ist es die Kapellenbrücke hier
in Luzern. Als Kind habe ich mir vorgestellt, daß es irre Spaß machen muß, über
diese gedeckte Holzbrücke zu gehen und dabei mit den Füßen zu trampeln, damit
die Bretter dröhnen.
Später einmal, ich war schon über
zwanzig, habe ich einem Freund diesen Wunsch erzählt und dabei seine zufällig
anwesende Mutter fast zum Weinen gebracht. Sie war als kleines Mädchen in
Luzern in die Schule gegangen, und wenn sie mit ihren Schulfreundinnen auf dem
Weg nach Hause über die Kapellenbrücke ging, stampften sie mit den Füßen genau
so, wie ich es gern getan hätte.
Ist es verwunderlich, daß mein erster
Weg heute zu dieser Brücke führt?
Da ist sie also. Dreimal geknickt läuft
sie vorbei an dem mächtigen achteckigen steinernen Wasserturm von einem Ufer
des Flusses Reuss zum anderen. Sie sieht ziemlich neu aus, die Balken und die
Bretter sind noch ganz hell, nur die beiden Brückenenden sehen alt und dunkel
aus. Vor vier Jahren ist die Brücke fast vollständig abgebrannt, das gab es
also nicht nur im Mittelalter, auch in unseren ach so sicheren Zeiten ist noch
alles möglich.
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