VILM 02. Die Eingeborenen (German Edition)
Grégoire wäre, wenn er nicht beim Absturz der Oosterbrijk zermalmt worden wäre, ein alter Mann. Sie rechnete. Dreiundachtzig würde er sein. Nein, er würde dreiundachtzig werden, in zwei Monaten. Mach mich nicht älter, als ich bin, schien er zu sagen. Eliza schaltete diesen Gedanken ab, als wäre er eine bockige Maschine, und rief den Inhalt der Datei ab. Sie hörte Lafayettes Stimme. Der Klang trieb Eliza sofort Tränen in die Augen; sie hätte nicht gedacht, dass eine Nachricht so weit aus der Vergangenheit solche Macht besäße. Die Stimme beschleunigte ihren Puls und ließ ihre Augen brennen. Kein einziges Wort kam bei ihr an. Grégoire klang beunruhigt. Das war alles, was sie wahrnahm. Die Aufzeichnung war vorbei. Eliza hatte von der Nachricht nichts verstanden. Sie wuchtete ihren alten Körper aus dem Stuhl, trottete ans Fenster und starrte in den leichten hellgrauen Regen. Lafayettes Stimme hatte so jung geklungen, so unverändert. Natürlich, eine digitale Aufzeichnung altert nicht. Eliza wusste das, selbstverständlich. Das Wissen nützte ihr nur überhaupt nichts. Ihre Gefühle machten Purzelbäume, und sie hatte das Bedürfnis, jemand nähme sie an die Hand und halte sie fest. Die Vilmkinder hatten es gut, die konnten immer zu Carl gehen oder einem anderen Stummblinden, wenn sie nicht weiterwussten. Für Eliza gab es diesen Trost nicht. Sie musste selbst damit zurechtkommen, dass eine uralte Nachricht pochenden Schmerz durch ihren Körper schickte.
Als ihr Herzschlag sich halbwegs normalisiert hatte, putzte sie sich umständlich die Nase und schaute den Rechner an, als könnte der sie unversehens anspringen. Dann setzte sie sich hin und wiederholte die Botschaft. Sie war mit dem vollen Namen des Absenders signiert: Grégoire Bernard Lafayette. Das war ungewöhnlich. Grégoire hatte seinen zweiten Vornamen nicht ausstehen können. »Dieser Weltenkreuzer tut so, als wäre er ein Billardball bei der Karambolage«, sagte Lafayette. »Eine Fehlfunktion der schwereren Sorte, aber das war nach all dem Missgeschick der letzten Monate nicht anders zu erwarten. Pass auf dich auf. Wir sehen uns nachher.«
Daraus wurde wohl nichts, dachte Eliza. Ihr war zumute, als liege eine dicke Schicht Watte über dem Gefühl, das sie jetzt empfinden müsste. Sie starrte eine Weile auf den Bildschirm und hatte den irritierenden Eindruck, sie sehe sich selbst gespannt zu: Was macht sie jetzt? Eliza kontrollierte die Nachricht auf Quelldaten und fand sie. Die Koordinaten des Absenders im Netz des Weltenkreuzers. Grégoire Lafayette war zum Zeitpunkt der Katastrophe in einem Segment der Vilm van der Oosterbrijk gewesen, das vollständig vernichtet worden war. Dieses Segment war unter denen gewesen, von denen es keine größeren Bruchstücke gab. Nun ja, in dieser Hinsicht hatte sie sich keinerlei Illusionen gemacht. Lange nicht mehr. Gegen das, was dem Weltenkreuzer zugestoßen war, half auch ein lebenslanges Auswahltraining nicht. Natürlich war der Mann tot. Wieso empfand sie keine Trauer? Lafayette, She Tsi, Jonathan Vliesenbrink, Christoff Masurat, Tina, diese und andere Namen fielen ihr ein. Und Lafayette war verschwunden gewesen, so wie Tom eines Tages verschwunden war. Jetzt war er tot. Er war in einem Segment gewesen, das außerhalb der Atmosphäre von Vilm zerstört wurde, dessen Trümmer in der dichten Luft des Regenplaneten verglüht waren oder tiefe rauchende Krater in die Oberfläche geschlagen hatten. Die Chancen standen gut, dass Lafayette einen schnellen Tod gefunden hatte. War das ein Trost? Natürlich nicht.
Eliza sah die anderen Adressen durch. Eine Menge von Nachrichten waren während der letzten Minuten der Oosterbrijk durchs Netz gegangen und unzustellbar in diesem Speicher geblieben. Keine lebenden Absender, und die Leute, denen diese Nachrichten zugehen sollten, gab es nicht mehr. Tote, die mit Toten sprechen wollten. Kurz spielte Eliza mit dem Gedanken, alles zu löschen, die ungehörten Mitteilungen genauso sterben zu lassen wie ihre Absender und Empfänger. Sollten auch diese Worte, Bilder und Geräusche endlich Ruhe finden ... Nein. Das gehörte zu dieser Geschichte dazu. Ein paar Vilmkinder arbeiteten an einer Geschichte der versehentlichen Besiedlung, und diese Nachrichten waren Teil dieser Geschichte. Sie gehörten an den Anfang, aber sie gehörten dazu. Zwar verstand Eliza nicht, warum die jungen Leute so an allem interessiert waren, was ihre Heimat und ihre Vergangenheit betraf, aber sie
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