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Virtuelles Licht

Virtuelles Licht

Titel: Virtuelles Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
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durchsichtigen Plastikbeutel, war vor ihr auf dem Wagen gestapelt. Sie hatte gerade laut ihre Waren angeboten, als sie die Kinder mit den Shapely-Masken sah; sie hatte seltsame Phrasen gerufen, Buchtitel, wie er vermutete: »Tal der Puppen, Blutmeridian, Auf Du und Du mit der Kettensäge ...«
    Yamasaki, verblüfft von der verqueren amerikanischen Poesie, war drauf und dran gewesen, nach Auf Du und 383
    Du mit der Kettensäge zu fragen. Dann war sie verstummt, und er hatte die Kinder ebenfalls gesehen.
    Nichts in ihrem Benehmen deutete jedoch darauf hin, daß die Prozession mehr von ihr verlangte als den Grad an Aufmerksamkeit, den sie ihr zukommen lassen wollte.
    Während sie die vorbeiziehenden Kinder beobachtete, zählte sie automatisch ihren Bestand, wie er sah; ihre Hände bewegten sich über die eingetüteten Bücher.
    Der Besitzer des Vogelstandes, ein blasser Mann mit einem sorgfältig gepflegten schwarzen Schnurrbart, kratzte sich den Bauch. Sein Gesichtsausdruck war sanft und leer.
    Nach den Kindern kamen fünf Tänzer in den
    Skelettanzügen der Noche da Muerte; Yamasaki sah
    jedoch, daß viele der Masken nur Halbmasken waren, Mikropore-Respiratoren, die so geformt waren, daß sie den grinsenden Kiefern von Totenschädeln glichen. Es handelte sich augenscheinlich um Teenager, und sie schüttelten sich zu einer inneren Musik von Seuche und Chaos. Da war eine starke erotische Unterströmung, etwas Gewalttätiges an den schwarzen, mit Knochen bemalten Schenkeln und den weißen, auf schmale Hintern in Jeans gemalten Comic-Becken. Als die Knochentänzer vorbeikamen, fixierte einer von ihnen Yamasaki mit einem scharfen Blick aus blauen, jugendlichen Augen über den schwarzen, gewölbten
    Nasenlöchern der weißen Atemschutzmaske.
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    Dann zwei hochgewachsene Gestalten, schwarze
    Männer mit häßlicher beiger Gesichtsbemalung,
    kostümiert als Chirurgen, in blaßgrünen Kitteln und langen, scharlachroten Latexhandschuhen. Waren das die — vorwiegend weißen — Ärzte, deren Versagen vor Shapelys Ankunft so viele das Leben gekostet hatte, oder repräsentierten sie die brasilianischen biomedizinischen Firmen, unter deren erfolgreicher und lukrativer Aufsicht Shapely sich vom illegalen Strichjungen zum glorreichen Spender gewandelt hatte?
    Und nach ihnen die ersten Leichen, in mehrere Lagen milchiger Plastikplane gehüllt und verschnürt, jede auf einem zweirädrigen Karren, wie sie hier gebaut wurden, um Gepäck oder größere Mengen Lebensmittel zu transportieren. Die vorübergehend mit schmalen Sperrholzpaletten abgedeckten Karren wurden hinten und vorn von Männern und Frauen ohne besonderes Kostüm oder Benehmen gelenkt, obwohl Yamasaki
    auffiel, daß sie weder nach links noch nach rechts schauten und keinen Blickkontakt mit den Zuschauern aufzunehmen schienen.
    »Da ist Nigel«, sagte die Buchhändlerin, »und er hat wahrscheinlich den Karren gebaut, mit dem sie ihn wegbringen.«
    »Das sind die Opfer des Gewitters?« wagte
    Yamasaki zu fragen.
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    »Nigel nicht.« Die Augen der Frau wurden schmal,
    als sie sah, daß er ein Fremder war. »Nicht mit diesen Löchern im Leib ...«
    Sieben insgesamt, jede auf ihrem eigenen Karren,
    und dann ein Mann und eine Frau in identischen Overalls aus Papier, die eine laminierte Lithographie von Shapely zwischen sich trugen, eins jener zuckersüßen Porträts mit großen Augen und hohlen Wangen, bei denen Yamasaki immer leicht übel wurde.
    Aber dann eine kleine, rote, herumspringende
    Gestalt. Ein Teufel ohne Schwanz und Hörner vielleicht, der mit einer riesigen Schußwaffe tanzte, einem uralten AK-47, das längst kein Schloß mehr hatte; das gebogene Magazin war aus Holz geformt, und das ganze Ding war einmal in roten Emaillelack getaucht worden, der inzwischen durch Hände und Prozessionen abgenutzt war.
    Und Yamasaki wußte, ohne zu fragen, daß der rote
    Tänzer die Art von Shapelys Heimgang darstellte, wie eine schreckliche, niederträchtige Dummheit, die im Herzen der Dinge lauerte.
     
    »Skinner-san?« Er hatte sein Notebook bereit. »Ich habe heute eine Prozession gesehen. Leichen wurden von der Brücke gebracht. Die Toten des Gewitters.«
    »Wir können sie nicht hierbehalten. Können sie auch nicht ins Wasser werfen. Da besteht die Stadt drauf. Wir geben sie ab und lassen sie verbrennen. Wenn jemand 386
    nicht ins Feuer will, kommt er drüben auf Treasure unter die Erde. Bei den Gestalten, die da draußen hausen, fragt sich's aber, ob das viel

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