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Virtuelles Licht

Virtuelles Licht

Titel: Virtuelles Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
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war.
    Zwanzig Minuten, bevor sie wieder Strom gehabt
    hatten, war Fontaine gegangen und hatte Skinners
    Protesten zum Trotz ein gewaltiges Bündel Wäsche
    mitgenommen. Skinner hatte den Tag damit verbracht, den Inhalt des grünen Werkzeugkastens immer wieder neu zu sortieren, den er bei seinem Versuch, den Bolzenschneider zu finden, umgeworfen hatte.
    Yamasaki hatte die Hände des alten Mannes dabei
    beobachtet, wie sie jedes Werkzeug der Reihe nach berührten, und sich eingebildet zu sehen, wie eine flüchtige Kraft oder Zielstrebigkeit in sie hineinströmte; vielleicht war es auch nur die Erinnerung an angepackte, ad acta gelegte oder beendete Aufgaben. »Werkzeug kann man immer verkaufen«, hatte Skinner nachdenklich gesagt, vielleicht zu Yamasaki, vielleicht auch zu sich selbst. »Irgend jemand kauft's immer. Aber dann 380
    braucht man's immer noch mal, und zwar genau das, was man verkauft hat.« Yamasaki kannte die englischen Wörter für die meisten Werkzeuge nicht, und viele kannte er überhaupt nicht, »'ne Reibahle mit Quergriff«, sagte Skinner und hob seine Faust; ein rostbrauner, maschinell hergestellter Stahlnagel ragte bedrohlich zwischen Zeige-und Mittelfinger heraus. »Das ist so ungefähr das praktischste Ding, das es gibt, Scooter, aber die meisten Menschen haben noch nie eine gesehen.«
    »Wozu man braucht das, Skinner-san?«
    »Um ein rundes Loch zu vergrößern. Und es bleibt
    dabei auch rund, wenn man's richtig anstellt. Ist hauptsächlich für Blech gedacht, geht aber auch bei Kunststoffen und synthetischem Material. Bei allem, was dünn und halbwegs hart ist. Bis auf Glas.«
    »Sie haben viel Werkzeug, Skinner-san.«
    »Hab aber nie gelernt, wie man's richtig benutzt.«
    »Aber Sie haben diesen Raum gebaut?«
    »Hast du schon mal 'nem echten Zimmermann bei der Arbeit zugesehen, Scooter?«
    »Einmal, ja.« Yamasaki erinnerte sich an eine
    Demonstration auf einem Volksfest; an die fliegenden schwarzen Äxte, den Geruch von gehacktem Zedernholz. Er erinnerte sich, wie das Holz ausgesehen hatte, cremig und makellos. Ein Teehaus war für die Dauer des Festes aufgebaut worden. »Holz ist sehr selten in Tokio, Skinner-san. Dort würde man nie sehen, 381
    wie welches weggeworfen wird, nicht einmal kleine Reste.«
    »Hier kommt man auch nicht so leicht dran«, sagte Skinner und rieb sich den Daumenballen mit dem Rand eines Meißels. Meinte er in Amerika, in San Francisco oder auf der Brücke? »Früher haben wir unsere Reste verfeuert, bevor wir hier Strom bekamen. Das gefiel der Stadt überhaupt nicht. Schlecht für die Luft, Scooter.
    Heutzutage machen wir das nicht mehr so viel.«
    »Das ist Mehrheitsbeschluß?«
    »Nur gesunder Menschenverstand ...« Skinner
    steckte den Meißel in das schmierige Segeltuchfutteral und verstaute ihn sorgfältig in dem grünen Kasten.
     
    Eine Prozession bewegte sich auf der oberen Ebene in Richtung San Francisco, und Yamasaki bereute sofort, daß er sein Notebook in Skinners Behausung liegengelassen hatte. Dies war das erste Mal, daß er hier so etwas wie ein öffentliches Zeremoniell zu sehen bekam.
    In dem engen, umschlossenen Raum war es
    unmöglich, die Prozession als etwas anderes denn als eine Abfolge von Teilnehmern wahrzunehmen, die einzeln oder zu zweit mitgingen, aber eine Prozession war es trotzdem, und zwar eindeutig ein Leichenzug oder eine Gedenkprozession. Zuerst kamen die Kinder, sieben nach seiner hastigen Zählung, eins nach dem anderen, in zerlumpter, aschgrauer Kleidung. Jedes Kind 382
    trug eine bemalte Gipsmaske, die offenkundig Shapely darstellen sollte. Ihr Gang hatte jedoch nichts Trauriges an sich; einige hüpften herum, entzückt von der Aufmerksamkeit, die man ihnen schenkte.
    Yamasaki, der gerade heiße Suppe holen wollte, war zwischen dem Wagen einer Buchhändlerin und einem Stand mit Vögeln in Käfigen stehengeblieben. Es war ihm peinlich, dort mit der ungewohnten Form des Thermobehälters unter dem Arm herumzustehen; er kam sich total deplaziert vor. Wenn dies eine Beerdigung war, wurde dann vielleicht eine bestimmte Geste verlangt, oder eine Haltung, die er einnehmen sollte? Er warf einen raschen Blick zu der Buchhändlerin hinüber, einer großen Frau in einer schmierigen Schaffellweste, deren graue Haare hinten zu einem Knoten zusammengebunden waren, in dem zwei pinkfarbene Plastikstäbchen steckten.
    Ihr Bestand, hauptsächlich vergilbende
    Taschenbücher in verschiedenen Stadien des Zerfalls, jedes einzelne in einem

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