Virtuelles Licht
Hernandez getragen hatte — eine Leihgabe von Kevin. Er hatte gerade eben seinen Verband abgenommen, die Luft herausgelassen, ihn zusammengeknüllt und in den fünf Gallonen fassenden Farbtopf aus Plastik geworfen, der als Abfalleimer diente. Der Topf hatte einen großen Aufkleber mit Gänseblümchen an der Seite. »Du könntest aber 'n bißchen regelmäßiger trainieren. Und dir vielleicht 'n paar Tätos machen lassen. Primitive Motive.«
»Kevin, ich hab keine Ahnung vom Surfen oder
Windsurfen und all dem Zeug. Ich war kaum mal im
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Wasser. Ein paarmal unten in der Bucht von Tampa.« Es war ungefähr zehn Uhr morgens. Kevin hatte heute frei.
»Beim Verkaufen geht's darum, daß die Leute was
erleben, Berry. Der Kunde braucht Informationen, und die gibst du ihm. Aber du verschaffst ihm auch ein Erlebnis.« Kevin tippte sich als Beispiel an seine fünf Zentimeter lange Spindel aus glattem weißem Rinderknochen. »Dann verkaufst du ihm 'ne neue Kluft.«
»Aber ich bin nicht mal richtig braun.« Kevin hatte ungefähr die Farbe und den Glanz der mittelbraunen Cole-Haan-Halbschuhe, die Rydell zum fünfzehnten Geburtstag von seiner Tante geschenkt bekommen
hatte. Das hatte nichts mit Genetik oder der Einwirkung ungefilterten Sonnenlichts zu tun, sondern es war das Resultat regelmäßiger Injektionen und einer komplizierten Dauerbehandlung mit Tabletten und
Salben.
»Naja«, gab Kevin zu, »braun müßtest du schon
sein.« Rydell wußte, daß Kevin nicht surfte und auch nie gesurft hatte. Er brachte jedoch Disks aus dem Laden mit nach Hause, spielte sie auf einer Telebrille ab und prägte sich dabei die diversen Surfbewegungen ein, und Rydell zweifelte nicht daran, daß Kevin sämtliche Informationen liefern konnte, die ein interessierter Kunde verlangen mochte. Und dazu noch dieses äußerst wichtige Erlebnis; mit seiner Korduanlederbräune, seinem durch Krafttraining aufgemotzten Körper und diesem Knochen durch die Nase erregte er reichlich 78
Aufmerksamkeit. Hauptsächlich bei Frauen, obwohl ihm das nicht so wichtig zu sein schien.
Kevin verkaufte in erster Linie Klamotten. Teures Zeug, das angeblich vor der UV-Strahlung und den Giftstoffen im Wasser schützte. Er hatte zwei komplette Kartons davon im einzigen Kleiderschrank in ihrer Wohnung gestapelt. Rydell, der im Moment nur wenig Garderobe besaß, durfte in den Sachen rumwühlen und sich alles ausleihen, was ihm gefiel. Das war nicht viel, wie sich herausstellte, denn Windsurfklamotten waren meistens knallbunt, aus schwarzem Nanopore oder spiegelndem Mirrorflex. Ein paar von den poppigeren Sachen hatten UV-sensitive ›JUST BLOW ME‹-Logos, die an den Tagen zum Vorschein kamen, an denen die Ozonschicht in besonders üblem Zustand war. Das hatte Rydell festgestellt, als er das letzte Mal auf dem Farmers Market gewesen war.
Kevin und er teilten sich eins von zwei Schlafzimmern in einem Sechziger-Jahre-Haus in Mar Vista, das ›Seeblick‹ hieß, obwohl es den dort nicht gab. Jemand hatte quer durch das Zimmer ein paar Platten Trockenmauer hochgezogen. Auf Rydells Seite war die Trockenmauer mit den gleichen großen Blümchenaufklebern und einer Souvenir-Kollektion
riesiger Sticker von Orten wie Magic Mountain, Nissan County, Disneyland und Skywalker Park bedeckt. In dem Haus wohnten noch zwei weitere Leute — drei, 79
wenn man die junge Chinesin draußen in der Garage mitzählte (aber die hatte da drin ihr eigenes Bad).
Rydell hatte den größten Teil seines ersten
Monatsgehalts von IntenSecure für einen Futon angelegt.
Er hatte ihn an einem Marktstand gekauft; dort waren sie billiger, und der Stand hieß Futon Mouth, was Rydell ziemlich komisch fand. Das Futon-Mouth-Mädchen hatte ihm erklärt, daß man dem Kerl von der Metro auf dem Bahnsteig einen Zwanziger zustecken konnte, damit er einen mit dem zusammengerollten Futon in dem großen, grünen Plastikbeutel, der Rydell an einen Leichensack erinnerte, in den Zug ließ.
In letzter Zeit hatte er oft auf diesem Futon
herumgelegen, während er darauf wartete, daß er den Verband abnehmen konnte, hatte zu den Riesenstickern hinaufgestarrt und sich gefragt, ob derjenige, der sie dort hingeklebt hatte, tatsächlich an all diesen Orten gewesen war. Hernandez hatte ihm einmal Arbeit in Nissan County angeboten. IntenSecure machte dort den Wachdienst. Seine Eltern hatten ihre Flitterwochen in Disneyland verbracht. Der Skywalker Park war in San Francisco; früher hatte er Golden Gate Park geheißen,
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