Virtuelles Licht
war jedoch erheblich detaillierter als die anderen, an die er sich erinnerte. Alle erlösten Seelen hatten ein eigenes, individuelles Gesicht, als ob sie wirklich jemand Bestimmten darstellen würden, und ein paar von ihnen erinnerten an berühmte Leute. Aber es sah trotzdem so aus, als ob das Bild von einem Fünfzehnjährigen oder von einer alten Frau gemalt worden wäre.
Kevin hatte ihn Ecke Sepulveda abgesetzt, und er
war auf der Suche nach dem Laden zwei Blocks
zurückgelaufen, an einem Trupp Behelmter vorbei, die das Fundament für eine Palme gossen. Rydell überlegte, ob es auf dem Ventura Boulevard vor dem Virus echte gegeben hatte; die Ersatzbäume waren inzwischen so beliebt, daß die Leute sie überall einsetzen wollten.
Der Ventura war eine jener Straßen von Los
Angeles, die einfach nie aufhörten. Er wußte, daß er mit Gunhead unzählige Male am Nightmare Folk Art vorbeigefahren sein mußte, aber diese Straßen sahen völlig anders aus, wenn man zu Fuß auf ihnen unterwegs 84
war. Erstens war man weitgehend allein, und dann
konnte man auch sehen, wie rissig und verstaubt viele der Häuser waren. Leere Räume hinter schmutzigem Glas, mit einem vergilbenden Haufen von Postwurfmüll auf dem Boden drinnen und vielleicht einer Pfütze, bei der es sich nicht um Regenwasser handeln konnte, so daß man sich fragte, was es war. Erst kamen ein paar solcher Häuser, dann ein Laden, in dem es Sonnenbrillen gab, die sechsmal so teuer waren wie die Miete, die Rydell für seine Hälfte des Zimmers in Mar Vista zahlte.
In dem Laden mit den Sonnenbrillen gab es bestimmt einen Wachmann, der auf den Summer drückte, wenn man reinwollte.
Nightmare Folk Art war auch von der Sorte. Der
Laden klemmte zwischen einem völlig toten
Hairweaving-Geschäft und einer dahinsiechenden
Immobilienagentur, die nebenbei Versicherungen
verkaufte.
›NIGHTMARE FOLK ART — HORROR DES
SÜDENS‹ — die Buchstaben handgemalt, plump und
haarig, wie Moskitobeine in einem Comic, Weiß auf Schwarz. Aber ein paar teure Wagen draußen vor der Tür: ein silbergrauer Range Rover, der an einen auf Show rausgeputzten Gunhead erinnerte, und einer dieser antiken kleinen Porsche-Zweisitzer, die in Rydells Augen immer so aussahen, als ob der Aufziehschlüssel rausgefallen wäre. Er machte einen weiten Bogen um den Porsche; solche Wagen hatten oft hypersensitive 85
(und manchmal auch hyper-aggressive) Anti-Diebstahl-Systeme.
Da war ein Privatcop, der ihn durch das Panzerglas der Tür hindurch ansah; nicht von IntenSecure, sondern von irgendeiner kleinen Firma. Rydell hatte sich eine gebügelte Khakihose von Kevin geliehen. Sie spannte ein bißchen um die Taille, aber sie schlug die orangefarbenen Shorts um Längen. Er hatte ein schwarzes IntenSecure-Uniformhemd an, von dem die Aufnäher abgerissen waren, seinen Stetson und seine Kampfstiefel. Er war nicht sicher, ob Schwarz wirklich zu Khaki paßte. Er drückte auf den Knopf. Der Privatcop ließ ihn herein.
»Ich bin mit Justine Cooper verabredet«, erklärte er und nahm seine Sonnenbrille ab.
»Die hat grade 'nen Kunden«, gab der Privatcop
zurück. Er sah aus, als ob er um die dreißig und auf einer Farm in Kansas oder sonstwo besser aufgehoben wäre.
Rydell schaute hinüber und sah eine dünne Frau mit schwarzen Haaren im Gespräch mit einem dicken Mann, der überhaupt keine Haare hatte. Sie schien ihm etwas verkaufen zu wollen.
»Ich warte«, sagte Rydell.
Der Farmer antwortete nicht. Den Gesetzen dieses
Staates zufolge durfte er außer der starken
Betäubungspistole, die in einem abgenutzten
Kunststoffhalfter steckte, keine Waffe tragen, aber er tat es wahrscheinlich trotzdem. Eins von diesen kleinen 86
russischen Dingern mit aberwitzig überdimensioniertem Kaliber, die ursprünglich dazu gedacht waren, die Motorblocks von Panzern auszuschalten. Die Russen, die noch nie sonderlich viel Wert auf Sicherheit gelegt hatten, beherrschten den Markt für Handfeuerwaffen.
Rydell schaute sich um. Er kam zu dem Schluß, daß die alte Apokalypse bei Nightmare Folk Art genau am richtigen Platz war. Diese Sorte Christen seien einfach ein erbärmlicher Haufen, hatte sein Vater immer behauptet. Da sei die Jahrtausendwende nun ohne nennenswerte Apokalypse vorbeigegangen, und
trotzdem beteten sie immer noch ihre alte Leier runter.
Sublett und seine Leute in ihrem Wohnwagen-Camp in Texas, die sich für Reverend Fallon alte Spielfilme anschauten — das hatte wenigstens noch einen gewissen
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