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Virtuelles Licht

Virtuelles Licht

Titel: Virtuelles Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
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Witz.
    Er blickte verstohlen zu der Frau hinüber und
    versuchte zu erkennen, was sie dem Dicken andrehen wollte, aber sie fing seinen Blick auf, und das war nicht gut. Deshalb ging er weiter in den Laden hinein und tat so, als ob er sich die Ware genauer anschauen würde.
    Es gab eine ganze Abteilung mit diesen widerlich
    aussehenden, spinnenartigen Kranzdingern hinter Glas in verschossenen Goldrahmen. Die Kränze sahen aus, fand Rydell, als wären sie aus krausen alten Haaren gemacht.
    Er sah winzige, korrodierte Babysärge, und einer davon war mit Efeu bepflanzt. Er sah Kaffeetischchen, die aus alten Grabsteinen gebaut waren, wie Rydell vermutete; 87
    die Beschriftung war so abgewetzt, daß man sie nicht mehr entziffern konnte. Er blieb vor einem Bettgestell stehen, das aus einem Haufen jener kleinen Mohren in Jockeykleidung zusammengeschweißt war, die man in Knoxville nicht auf dem Rasen aufstellen durfte. Die kleinen Mohren hatten alle ein wassermelonenesserbreites, rotlippiges Grinsen aufgemalt bekommen. Über das Bett war eine
    handgenähte, wie eine Konföderiertenfahne gemusterte Decke gebreitet. Als er nach einem Preisschild suchte, fand er nur einen gelben Aufkleber mit der Aufschrift VERKAUFT.
    »Mr. Rydell? Darf ich Sie Berry nennen?« Justine
    Coopers Kinnpartie war so schmal, daß sie in ihrem Mund nicht genug Platz für ein normales Gebiß zu haben schien. Ihre Haare waren kurzgeschnitten, ein glänzender brauner Helm. Sie trug ein paar dunkle, fließende Sachen, die Rydells Ansicht nach die Tatsache verbergen sollten, daß sie mehr oder weniger wie eine Gespenstheuschrecke gebaut war. Sie hörte sich nicht gerade so an, als ob sie aus einer Gegend käme, die man auch nur ansatzweise als Süden bezeichnen könnte, und eine sichtbare Anspannung hielt ihren Körper wie mit Drähten aufrecht.
    Rydell sah, wie der dicke Mann hinausging und auf dem Bürgersteig stehenblieb, um die Schutzvorrichtungen des Range Rover zu deaktivieren.
    »Klar.«
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    »Sie sind aus Knoxville?« Er merkte, daß sie
    absichtlich langsam atmete, als ob sie sich bemühte, nicht zu hyperventilieren.
    »Das stimmt.«
    »Sie haben keinen besonderen Akzent.«
    »Ich wünschte, das würde jeder finden.« Er lächelte, aber sie lächelte nicht zurück.
    »Stammt Ihre Familie aus Knoxville, Mr. Rydell?«
    Mist, dachte er, komm schon, sag Berry zu mir.
    »Mein Vater, glaube ich. Die Familie meiner Mutter ist größtenteils aus der Gegend um Bristol.«
    Justine Coopers dunkle Augen, in denen nicht viel Weiß zu sehen war, blickten ihn direkt an, aber sie schienen nichts wahrzunehmen. Er schätzte, daß sie in den Vierzigern war.
    »Miss Cooper?«
    Sie schreckte heftig auf, als ob er ihr einen Finger in den Hintern gesteckt hätte.
    »Miss Cooper, was sind das für kranzähnliche Dinger in den alten Rahmen da?« Er zeigte hin.
    »Gedenkkränze. Südwestvirginia, Ende neunzehntes, Anfang zwanzigstes Jahrhundert.«
    Gut, dachte Rydell, laß sie über die Ware reden. Er ging zu den gerahmten Kränzen hinüber, um sie sich genauer anzuschauen. »Sieht wie Haar aus«, sagte er.
    »Ist es auch«, erwiderte sie. »Was soll es denn sonst sein?«
    »Menschenhaar?«
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    »Natürlich.«
    »Sie meinen, das Haar von Toten?« Erst jetzt bemerkte er das minuziöse Flechtwerk; das Haar war zu winzigen, blumenähnlichen Knoten geflochten. Es war glanzlos und hatte keine bestimmte Farbe. »Mr. Rydell, ich fürchte, ich habe Ihre Zeit verschwendet.« Sie bewegte sich zögernd in seine Richtung. »Als ich am Telefon mit Ihnen sprach, hatte ich den Eindruck, Sie seien — nun ja — südlicher ...«
    »Wie meinen Sie das, Miss Cooper?«
    »Was wir den Leuten hier anbieten, ist eine
    bestimmte Vision, Mr. Rydell. Auch eine gewisse Düsterkeit. Ein Hauch von Horror.«
    Verdammt. Dieser sprechende Kopf im Display der
    Agentur hatte den gleichen Quatsch abgespult, Wort für Wort.
    »Ich nehme nicht an, daß Sie Faulkner gelesen
    haben?« Sie hob eine Hand, um etwas Unsichtbares
    wegzuwischen, was ihr vor dem Gesicht hing.
    Da war es schon wieder. »Nee.«
    »Nein, das habe ich mir gedacht. Ich möchte
    jemanden haben, der mir helfen kann, diese Düsterkeit zu vermitteln, Mr. Rydell. Den Geist des Südens. Einen Fiebertraum der Sinnlichkeit.«
    Rydell schaute verständnislos drein.
    »Aber Sie vermitteln mir das nicht. Tut mir leid.« Das unsichtbare Spinnennetz war wieder da.
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    Rydell schaute zu dem Privatcop hinüber, aber er
    schien nicht zuzuhören. Zum

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