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Virtuelles Licht

Virtuelles Licht

Titel: Virtuelles Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
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das weiße Haus am Hang, die Erlösung, die sie spendet. Er steckt die Etuis in seine Jackentasche ...
    Aber jetzt verspannt er sich unter der Daunendecke.
    Eine Woge der Nervosität dreht ihm den Magen um.
    Er hat die Jacke auf dieser Party angehabt, an die er sich über weite Strecken nicht mehr erinnern kann.
    Ohne das dumpfe Pochen in seinem Kopf zu
    beachten, wühlt er sich aus dem Bett und findet die Jacke zerknüllt auf dem Boden, neben einem Stuhl.
    Sein Herz klopft.
    Da. Das, was er abliefern muß. In der Innentasche mit dem zugezogenen Reißverschluß. Aber die
    Außentaschen sind leer.
    Sie ist weg. Er durchwühlt seine anderen Sachen. Auf Händen, und Knien, mit einem pulsierenden Schmerz hinter den Augen, späht er unter den Stuhl. Weg.
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    Aber sie ist immerhin zu ersetzen, ruft er sich ins Gedächtnis, immer noch auf den Knien, mit der Jacke in den Händen. Er wird schon einen Händler für diese Art von Software finden. In letzter Zeit hatte er zu argwöhnen begonnen, gesteht er sich jetzt ein, daß ihre Auflösung schlechter wurde.
    Während er das denkt, beobachtet er, wie seine
    Hände den Reißverschluß der Innentasche aufmachen und das Etui herausholen, das das enthält, was man ihm anvertraut hat, ihr Eigentum, das, was abgeliefert werden muß. Er öffnet es.
    Die abgewetzten schwarzen Plastikrahmen, das
    Etikett auf der Kassette abgenutzt und unleserlich, die gelb verfärbte Durchsichtigkeit der Audiostöpsel.
    Er hört einen hohen, dünnen Laut, der tief aus seiner Kehle kommt. Wohl fast den gleichen wie damals, vor Jahren, als die erste Granate einschlug.
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    Die Brücke
     
    Darauf bedacht, genau die dreißig Prozent Tip
    draufzulegen, bezahlte Yamasaki den Fahrpreis und quälte sich vom spatigen Rücksitz des Taxis nach
    draußen. Der Fahrer, der wußte, daß alle Japaner reich waren, zählte verdrossen die zerfledderten, schmutzigen Scheine ab und warf dann die drei FünfDollar-Münzen in einen gesprungenen Nissan-County-Thermosbecher, der an das verschossene Armaturenbrett geklebt war.
    Yamasaki, der nicht reich war, schulterte seine
    Umhängetasche, drehte sich um und ging auf die Brücke zu. Das Morgenlicht fiel schräg durch das komplexe Gewirr ihrer sekundären Struktur, und ihr Anblick griff ihm wie immer ans Herz.
    Die makellose Linienführung der Brücke war so
    streng und klar wie das moderne Programm selbst, aber drumherum war eine andere, von ihren eigenen
    Bedürfnissen geleitete Realität gewachsen. Sie war Stück für Stück entstanden, ohne festgelegten Plan, aber unter Anwendung jeder denkbaren Technik und mit allen nur möglichen Materialien. Das Resultat war ein 97
    amorphes, verblüffend organisches Etwas. Bei Nacht, wenn es von Weihnachtslämpchen, recyceltem Neon
    und Fackeln erleuchtet wurde, besaß es eine eigenartige mittelalterliche Energie. Am Tag erinnerte es ihn — aus einiger Entfernung betrachtet — an die Ruine des Piers von Brighton in England; es war wie ein Blick in ein kaputtes, folkloristisches Kaleidoskop.
    Die Stahlknochen und vielsträhnigen Sehnen
    verschwanden unter einer Ablagerung von Träumen:
    Tätowierungsstudios, Spielhallen, matt erleuchtete Stände voller zerfledderter Zeitschriften, Buden, in denen Feuerwerkskörper oder kleingeschnittener Köder verkauft wurde, Wettbüros, Sushi-Bars, Pfandleiher ohne Lizenz, Kräuterhändler, Friseure, Bars. All diese Geschäftsträume hatten ihren Sitz auf den Ebenen, auf denen früher einmal Autos gefahren waren, während sich über ihnen bis zu den Spitzen der Kabeltürme hinauf das auf komplizierte Weise aufgehängte Barrio mit seinen zahllosen Bewohnern und seinen Zonen privaterer Phantasien erhob.
    Zum ersten Mal hatte er es bei Nacht gesehen, vor drei Wochen. Er hatte im Nebel gestanden, mitten unter Obst-und Gemüsehändlern, die ihre Waren auf Decken ausgelegt hatten, und mit klopfendem Herzen zum Eingang in diese Zauberwelt zurückgeschaut. Unter einem ausgefransten Bogen aus erbeuteten Neonlampen stieg Dampf von den Töpfen der Suppenverkäufer
    empor. Alles floß ineinander, verschwamm und
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    verschmolz im Nebel. Die Telepräsenz hatte den Zauber und die Einmaligkeit dieses Gebildes nur angedeutet, und er ging langsam und voller Ehrfurcht weiter, in diesen Neonschlund und das ganze kunterbunte Flickwerk überall zusammengeklaubter Materialien hinein. Ein Märchenland. Vom Regen versilbertes Sperrholz,
    zerbrochener Marmor von den Mauern vergessener
    Banken, gewellter Kunststoff,

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