Obsession
[ Navigation ]
|9| Kapitel 1
Er entdeckte die verschlossene Kassette am Tag nach der Beerdigung.
Schon bevor er sie öffnete, war es der schlimmste Tag seines Lebens gewesen. Bis dahin hatte er ein Ziel gehabt, auf das er
sich konzentrieren konnte und das den Tagen wenigstens die Illusion von Sinn gab. Er hatte sich hinter den bürokratischen
Ritualen rund um Tod und Bestattung verstecken können, während die Beerdigung selbst unwirklich gewesen war, ein Schauspiel,
das er mit betäubter Distanz beobachtete. Sobald jedoch die letzten Freunde und Trauergäste verabschiedet waren, füllte nichts
mehr die Leere, die Sarahs Tod verursacht hatte. Er hatte Jacob zu Bett gebracht, den Fernseher eingeschaltet und sich einsam
und allein betrunken, bis er im Nebel des Alkohols vergaß, dass das Leben weitergehen würde.
Als er am nächsten Morgen aufwachte, war es draußen so kalt und trostlos wie das leere Bett neben ihm. Er stand auf und zog
sich an, als könnte er durch die Bewegung der traurigen Erkenntnis seines Verlustes entfliehen. Jacob war still, als Ben Milch
über seine Cornflakes goss, aber er schaute sich unruhig in der Küche um, als würde er etwas suchen. Ben fragte sich, ob der
Sechsjährige verstand, was geschehen war. Er legte eine Hand auf den Kopf seines Stiefsohnes.
|10| «Tessa bringt dich heute zur Schule, okay?»
Jacob reagierte nicht. Mit einem Ohr über der Schüssel lauschte er dem Knistern der Cornflakes in der Milch. Ben überlegte,
was er sagen könnte, doch jedes Wort kam ihm wie eine Last vor, die er stemmen musste. Er strich kurz durch das Haar des Jungen
und ging davon.
Tessa war wie immer pünktlich und platzte aufgesetzt fröhlich in die Küche. Als sie Jacob mit einer Begeisterung begrüßte,
die sowohl unangenehm als auch falsch war, unterdrückte Ben seine Verärgerung. Jacob nahm keine Notiz von ihr. Seine Aufmerksamkeit
war noch immer auf die Cornflakes gerichtet, die mittlerweile die Milch aufgesogen hatten und keinen Ton mehr von sich gaben.
Einen Teil hatte er bereits gegessen, den Rest arrangierte er nun sorgfältig entlang dem Schüsselrand.
Tessa sah Ben mit einer gekünstelt sorgenvollen Miene an. «Wie geht es dir?»
«Okay.» Er wandte sich ab, ehe sie ihm ihr Mitgefühl aufdrängen konnte. «Möchtest du einen Kaffee?»
«Nein. Wenn Jacob fertig ist, fahren wir besser gleich los. Im Radio haben sie gesagt, dass es auf dem Weg zur Schule Baustellen
gibt. Bestimmt kommen wir in einen Stau.»
«Du denkst daran, die gewohnte Strecke zu nehmen, ja?»
Ihr Lächeln zuckte ein wenig. «Natürlich.»
Als sie eines Morgens einen anderen Weg zur Schule genommen hatte, war Jacob im Wagen ausgeflippt. Ben hatte sich entschuldigt
und ihr erklärt, dass der Junge bei jeder Veränderung seiner Gewohnheiten wütend wurde. Dass sie das bereits wusste, überging
er dabei geflissentlich. Tessa hatte ihr Bedauern ausgedrückt, es war allerdings ein bisschen zu süßlich ausgefallen, um aufrichtig
zu klingen. Und Ben kam |11| es vor, als ob sie Jacob seitdem immer ein wenig misstrauisch betrachtete.
Während er dem Jungen in Schuhe und Jacke half, plapperte sie weiter drauflos. «Soll ich ihn wirklich nicht auch abholen?»,
fragte sie. «Das würde keine Umstände machen.»
«Nein, es geht schon, danke.» Er rang sich ein Lächeln ab, bis Tessa sich zufriedengab. Zum Abschied nahm sie ihn nicht nur
in den Arm, sondern gab ihm auch einen Kuss auf die Wange. Ihre war so stark gepudert, dass sie sich wie Wildleder anfühlte.
Ihr Parfüm roch genauso aufdringlich wie die Blumen auf Sarahs Sarg. «Wenn ich irgendetwas tun kann, ruf mich einfach an.»
Ben sagte, dass er das tun würde, und bückte sich, um Jacob einen Kuss zu geben. «Bis später, Jake. Sei lieb zu Tessa.»
Der Junge antwortete nicht. Er hatte ein Geduldspiel in der Hand, ein Labyrinth aus Plastik, durch das eine winzige Kugel
rollte. Sobald er es schaffte, die Kugel ans Ziel zu lenken, schüttelte er das Spiel und begann von vorn. Auch als er mit
Tessa hinausging, ließ er es nicht aus den Augen. In der Tür stehend, schaute Ben zu, wie die beiden in den Wagen stiegen,
in dem Scott und Andrew, Tessas Söhne, warteten. Als sie davonfuhren, winkte er.
Dann schloss er die Tür und ging zurück ins Haus.
In jedem Zimmer wurde er daran erinnert, dass Sarah nicht mehr da war. Mit diesem schmerzlichen Gefühl kehrte er in die Küche
zurück. Er nahm seinen Kaffee, aber der
Weitere Kostenlose Bücher