Virtuelles Licht
hab.«
Sammy Sal seufzte. »Du bist so 'ne richtige
Unschuld.«
Es klang komisch, als ob sie nicht gewußt hätte, daß man das Wort so benutzen konnte. »Kommst du nun mit, Sammy Sal?«
»Wozu?«
»Unterhalt dich mit Skinner. Stell dich zwischen ihn und seine Magazine. Da hab ich sie hingetan. Hinter seine Magazine. Damit er nicht sieht, wie ich sie raushole. Ich klettere dann aufs Dach rauf, und weg ist sie.«
»Okay«, meinte er, »aber ich sage dir, du machst
alles nur noch schlimmer.«
»Das Risiko geh ich ein, okay?« Sie stieg ab und
begann, ihr Rad zur Brücke zu drehen.
»Ich schätze, das tust du«, sagte Sammy Sal, aber dann stieg er ebenfalls von seinem Rad und schob es hinter ihr her.
Es hatte bisher nur drei wirklich gute, das heißt, wahrlich märchenhafte Tage in Chevettes Leben gegeben. Einer war der Tag gewesen, an dem Sammy
Sal ihr erklärt hatte, er würde versuchen, sie bei Allied unterzubringen, und es dann auch getan hatte. Ein anderer war derjenige gewesen, als sie ihr Rad bei City 202
Wheels gekauft und bar bezahlt hatte und gleich damit aus dem Laden rausgefahren war. Und dann der Tag, oder vielmehr die Nacht, als sie Lowell im Kognitive Dissidenten kennengelernt hatte, aber konnte man den jetzt noch dazurechnen? Das hieß nicht, daß das die Tage waren, an denen sie am glücklichsten gewesen war, denn die glücklichen Tage waren einer wie der andere tödlich beschissen gewesen, bis auf die Momente, in denen das Glück über sie hereingebrochen war.
Glücklich war sie in der Nacht gewesen, als sie über den NATO-Drahtzaun geklettert und aus dem Jugendheim bei Beaverton abgehauen war, aber das war eine total beschissene Nacht gewesen. Die Narben an ihren beiden Händen waren der Beweis.
Glücklich war sie auch in der Nacht gewesen, als sie zum ersten Mal auf die Brücke hinausgegangen war, auf der unteren Ebene, mit weichen Knien von einem Fieber, das sie sich auf dem Weg entlang der Küste hinunter geholt hatte. Alles tat ihr weh: die Lichter, jede Farbe, jedes Geräusch; ihr Geist drückte in die Welt hinaus wie ein geschwollenes Gespenst. Sie erinnerte sich an die lose herunterhängende Sohle ihres Turnschuhs, die über die von Abfall übersäte Ebene schleifte, und daran, wie weh ihr das getan hatte und daß sie sich schließlich hatte hinsetzen müssen, weil sich alles um sie herum drehte, und an den Koreaner, der aus seinem kleinen Laden gerannt kam und auf sie einschrie, 203
steh auf, steh auf, nicht hier, nicht hier. Und Nicht Hier war ihr wie eine derart grandiose Idee erschienen, daß sie sich schnurstracks woandershin begeben hatte, indem sie hintenüberkippte und nicht mal spürte, wie ihr Schädel aufs Pflaster knallte.
Und dort hatte Skinner sie gefunden, obwohl er sich nicht dran erinnerte oder vielleicht auch nur nicht drüber reden wollte; sie war sich nicht ganz sicher. Sie glaubte nicht, daß er sie allein zu seiner Bude hinaufgebracht haben konnte; er brauchte selber Hilfe, um dort hinaufzukommen, mit seiner Hüfte und so. Aber es gab trotzdem Tage, an denen er einen plötzlichen Energieschub bekam und man sehen konnte, wie stark er früher einmal gewesen sein mußte, und dann tat er Dinge, die man ihm überhaupt nicht zutraute. Deshalb war sie nicht ganz sicher.
Das erste, was sie gesehen hatte, als sie die Augen aufschlug, war das runde Kirchenfenster mit den Stofffetzen in den Lücken und die Sonne gewesen, die hindurchschien — kleine Farbpunkte und -kleckse, die sie noch nie gesehen hatte, alles schwamm vor ihren fiebrigen Augen wie Insekten im Wasser. Dann die Knochenbrecherzeit, in der das Virus sie auswrang wie der alte Mann das Handtuch, das er ihr um den Kopf gelegt hatte. Als das Fieber nachließ und langsam abzog — hundert Meilen weit, wie es ihr vorkam, dorthin zurück und über den Rand der Krankheit hinaus —, fielen ihr die Haare in trockenen Büscheln aus, die an 204
den feuchten Handtüchern kleben blieben wie die
schmutzigen Reste einer Matratzenfüllung.
Als sie nachwuchsen, waren sie dunkler, fast
schwarz, so daß sie sich hinterher wie ein ganz anderer Mensch fühlte. Oder endlich wie sie selbst, dachte sie.
Und sie war bei Skinner geblieben, hatte getan, was er sagte, um sie beide zu ernähren und seine Bude in Ordnung zu halten. Er schickte sie mit allem möglichen Kram auf die untere Ebene hinunter, wo die Trödler ihr Zeug ausbreiteten: mit einem Schraubenschlüssel, auf dem ›BMW‹ stand, einer auseinanderfallenden
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