Virulent
Margaret.
»Margaret, verdammt nochmal, was ist nur los mit dir?«, sagte Amos. »Du bist Ärztin. Erinnerst du dich noch an die Wendung primum non nocere?«
Margaret schluckte. Die lateinische Wendung hieß: zuerst
einmal nicht schaden. Streng genommen gehörte sie nicht zum Hippokratischen Eid, doch die Worte wurden jedem Medizinstudenten eingebläut.
»Doch, ich erinnere mich daran«, sagte sie. »Ich erinnere mich aber auch noch an eine andere lateinische Wendung, nämlich an die, die wir an der Wand von Kiet Nguyens Zimmer gefunden haben. Im Haus mit all den toten jungen Leuten. E pluribus unum. Erinnerst du dich noch daran?«
Amos antwortete nicht. Er sah weg.
»Was bedeuten diese Worte, Amos? Sag’s uns.«
»Es bedeutet aus vielem eines«, sagte er leise.
»Also richten wir uns nach unseren Befehlen«, sagte Margaret. »Wir rufen die Familie des Mädchens nicht an. Steig in deinen Schutzanzug. Wir werden reingehen und mit ihr reden. «
Nachdem sie ihre Schutzanzüge angezogen hatten, betraten Margaret und Amos den Autopsieraum. Eine luftdicht schließende Tür führte in den ausziehbaren Verbindungsgang zu Trailer B. Margaret sah zu, wie das Licht über dieser Tür von Rot auf Grün schaltete. Amos öffnete die Verriegelung, und die Tür schwang auf. Sie führte in einen knapp anderthalb Meter langen Korridor, der in einer ebensolchen Tür auf der anderen Seite endete. Sie mussten zunächst ihre Tür schließen, bevor sie die andere Tür öffnen konnten, denn erstens handelte es sich um eine Luftschleuse und zweitens war der Korridor nicht lang genug, als dass man beide gleichzeitig hätte öffnen können.
Vor dem nächsten Start des MargoMobils würden integrierte Düsen das Innere des Ganges mit der üblichen Mischung aus Chlor und Bleichmitteln ausspülen. Danach würden Gitsh
und Marcus die Verbindung zusammenfalten, sie in ihrem Behälter in Trailer B verstauen und die luftdicht schließende Außentür verriegeln. Danach wäre das MargoMobil wieder dort, wo man auch Willie Nelson finden konnte: on the road again.
Margaret betrat den Korridor. Amos schloss die Tür hinter ihr. Über der Tür zu Trailer B schaltete das Licht von rot auf grün. Amos öffnete diese Tür und trat ein. Jetzt befand sich Bettys Isolationskammer nicht einmal mehr anderthalb Meter vor ihm.
Das Mädchen hob den Kopf, um sie anzusehen. Margarets Herz wäre beinahe entzweigebrochen.
Drei riesige schwarze offene Wunden verunstalteten die linke Gesichtshälfte des Mädchens. Eine befand sich mitten auf ihrem Wangenknochen, eine an der Verbindung zwischen Kiefer und Hals und eine an ihrer Schläfe. Diese letzte hatte sich unter ihr dunkles Haar gegraben, das einst sehr schön gewesen sein musste. Jetzt klebten nasse Strähnen in ihrem Gesicht, auf ihrer Stirn und auf dem Metalltisch um ihren Kopf herum.
Die verwesenden schwarzen Stellen in ihrem Gesicht waren bei Weitem die schlimmsten, doch es waren nicht die einzigen, die Probleme bereiteten. Ihr Körper war von mindestens zwei Dutzend Kreisen von der Größe eines Zehncentstücks übersät. Ihre Hände sahen schrecklich aus; die Hälfte der Haut war zusammengeschrumpelt und schwarz, und sie nässte. Ihre Finger sahen wie eine moderne Skulptur aus nassen Rosinen aus. Mehrere Infusionsnadeln steckten in den Venen ihrer Füße – zwei der wenigen noch unbetroffenen Körperteile.
Schluchzer schüttelten das Mädchen. Obwohl man sie bereits vor etwa sechzehn Stunden fixiert hatte, waren ihre Tränen noch immer nicht versiegt.
Margaret und Amos traten auf die durchsichtige Glaszelle zu. Eine Touch-Screen-Steuerungseinheit, die an der Tür angebracht war, diente als drahtlose Verbindung zu allen Systemen innerhalb der Isolationskammer. Man konnte mit ihr sogar eine notfallmäßige Sterilisation auslösen. Man musste nichts weiter tun, als #-5-4-5-5 einzugeben, um in beiden Trailern jeden Quadratzentimeter mit der tödlichen Mischung aus Chlor und Bleichmittel abzuspülen.
Margaret drückte auf einen Knopf, um die Kommunikationseinheit zu aktivieren. So konnten sie Betty auf ihren Ohrhörern empfangen, und ihre Stimmen würden auf Lautsprecher innerhalb der Zelle übertragen.
»Hallo, Betty«, sagte Margaret.
Betty hörte einen Augenblick lang zu wimmern auf, gerade lange genug, um unter Mühen tief Luft zu holen.
»Lasst mich raus!«
»Das können wir nicht«, sagte Margaret. »Du bist sehr krank.«
»Verfickte Scheiße, ihr verdammten Arschlöcher! Und ob ich
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