Virus (German Edition)
einer der Polizisten den Raum
verließ und von außen verschloss, blieb der zweite, ein wahrhafter Hüne, im
Inneren der Zelle an der Tür stehen.
Debbie schrak fürchterlich
zusammen, als sie den selbsternannten Engel sah. Sein Gesicht war übersät mit
starken Schwellungen und Blutergüssen in diversen Lila-Abstufungen. Die
zugeschwollenen Augen waren entsetzlich gerötet, als habe ihm jemand Tabasco
hineingegossen, und geronnenes Blut überzog seine Finger. Hatte man ihn etwa
gefoltert, um den Namen seines Komplizen aus ihm herauszupressen? Unmöglich.
Nicht in Deutschland. Doch der Augenschein sprach eine andere Sprache.
„Wir haben Ihren Komplizen
Robert Ecram gefunden, Herr Somniak”, begann Holger das Gespräch, während
Debbie den Blick in Richtung der Tischplatte gesenkt hatte. Sie konnte dem
hageren Killer einfach nicht ins Gesicht gucken, zu schrecklich war der
Anblick.
„Gut”, hörte Debbie Somniak
antworten. Sie schielte nach oben und sah, dass er völlig unbeteiligt mit
leeren Augen geradeaus starrte. Sofort wandte sie ihren Blick wieder von ihm ab
und Holger zu.
„Er ist tot. Ecram wurde letzte
Nacht erschossen”, fuhr dieser fort.
„Dann war es Gottes Wille”,
erwiderte Somniak mit monotoner Prosodie. „Der Herr hat Ihnen seine Zeichen
gezeigt.”
„Aber sagten Sie nicht, diese
ganze inszenierte Apokalypse sei Gottes Wille gewesen? Nun wird sie
unvollständig bleiben, weil Mr. Ecram den sechsten Mord nicht begehen kann.”
Plötzlich erkannte Debbie, worauf Holger hinauswollte.
„Gottes Wille wird geschehen”, flüsterte
Somniak in einer nahezu transzendentalen Stimme. „Wann werden Sie das endlich
begreifen, Sie Ungläubiger? Gottes Wille wird geschehen und es ist nicht an
Ihnen noch an irgendjemandem, daran etwas zu ändern.”
Holger erhob sich. „Okay, dann
werde ich das wohl einfach akzeptieren müssen”, sagte er und bedeutete dem Polizisten
an der Tür, sie hinauszulassen.
Debbie stolperte ihm fast wie in
Trance hinterher, während ein fürchterliches Rauschen in ihren Ohren sie zu
erdrücken schien und jedes andere Geräusch ausblendete. Der einzige Gedanke,
den sie fassen konnte, war, dass sie sich nach wie vor in schrecklicher Gefahr
befand.
127.
Inzwischen hatte er drei Aspirin
genommen, doch die Kopfschmerzen wollten einfach nicht besser werden. Ganz im
Gegenteil hatte jede Aussage Somniaks sich angefühlt, als würde der Killer sie
mit Hammer und Meißel in Holgers Kopf fräsen. Mit jeder einzelnen Silbe hatte
der selbsternannte Engel gesagt, dass Debbies Tod nicht zu verhindern sei.
Doch Holger war nicht bereit,
einen weiteren Menschen, der ihm etwas bedeutete, zu verlieren. Er würde es
nicht zulassen. Er und Debbie waren inzwischen in Herforths Büro zurückgekehrt,
um ihr von dem Verhör zu berichten.
Die Ermittlungsleiterin hatte
Sandwiches zum Frühstück bereitgestellt, doch an Essen konnte Holger in diesem
Moment nicht denken. Die hämmernden Kopfschmerzen ließen ihn noch immer am
Rande einer Ohnmacht balancieren, und er hielt es nicht für ratsam, seine raren
Blutreserven an seinen Verdauungstrakt auszuleihen. Zudem füllte die Angst um
Debbie seinen Bauch wie mit Backsteinen aus. Auch Debbie rührte die Sandwiches
nicht an.
„Somniak ist also nach wie vor
davon überzeugt, dass seine Serie Vollständigkeit erfahren wird”, fasste
Herforth Holgers Bericht zusammen.
„Und es wird bald geschehen”,
fügte Debbie an. „Für uns Wissenschaftler ist der Gipfel um ein Uhr heute
Mittag vorbei. Dann gibt es eine offizielle Verabschiedung für alle Forscher,
die am Gipfel teilgenommen haben, und wir dürfen nach Hause gehen.” Sie machte
eine kurze Pause. „Wenn wir noch können”, fügte sie dann bitter an.
„Sie werden nicht zu der
Zeremonie gehen”, sagte Herforth in einem bestimmten Tonfall. „Viel zu
gefährlich.”
„Oh, doch. Ich werde gehen”,
widersprach Debbie.
„Von was für einer Zeremonie
sprecht ihr überhaupt?” versuchte Holger, mitreden zu können.
„Es ist eine hochoffizielle
Geschichte und soll die Wissenschaftler mit dem Gefühl nach Hause schicken, von
den Mächtigen dieser Welt anerkannt und beachtet zu werden”, erklärte Herforth.
„Jeder Einzelne von ihnen wird durch ein Spalier von Soldaten auf die Kanzlerin
zugehen. Eine perfekte Gelegenheit für einen Mord.”
„Du solltest wirklich nicht gehen”,
sagte Holger besorgt und blickte Debbie an.
„Und wenn es dann stattdessen
jemand anderen trifft?”
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