Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Visby: Roman (German Edition)

Visby: Roman (German Edition)

Titel: Visby: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Slawig
Vom Netzwerk:
Personen. Ein Mann stieg gerade vor dem Naturkundemuseum aufs Rad; unterwegs zum Strand oder nach Haus, um endlich auch für den Sommerurlaub zu packen. An dem Teich in der Mitte der Wiese fütterte ein kleines Mädchen mit Mami die Enten.
    Mami mit Kind. Fünf Jahre alt.
    Nein. Fang nicht wieder an.
    Sie ging zum Schreibtisch zurück und setzte sich vor den Rechner. Der Bildschirm war dunkel, sie bewegte die Maus. Eine Website: Offene Fragen der Ergodentheorie . Dahinter schaute ein anderes Fenster hervor, NetLogo, das Simulationsprogramm für Anfänger, mit dem sie zu viele Stunden verbrachte. Seit zehn Tagen schon kam sie mit der Arbeit nicht weiter, seit zehn Tagen steckte sie in diesem weißgrauen Zustand; seit zehn Tagen, seit der Mail von Lee.
    Nein.
    Sie klickte das NetLogo-Fenster an. Dort liefen immer noch die Turtles umher, kleine bunte Pfeilspitzen ohne Schäfte; sie bewegten sich zappelnd und simulierten – was noch einmal? Schwarmverhalten, ja, richtig, benachbarte Turtles zogen sich an und einigten sich auf eine Zugrichtung. Derzeit wanderten die meisten in einem Haufen über den Bildschirm, aber sie hatte die Parameter so eingestellt, dass einige immer wieder quer hindurchschossen, und manchmal brachten sie den gesamten Schwarm durcheinander; dann herrschte erneut chaotisches Gewimmel. Man konnte ihnen minutenlang zusehen und sich einbilden, dass man etwas lernte; während die Gedanken immer weiter verschwammen, als würden die Turtles sie mit sich wegtragen.
    Es lag am Licht. Diesem gleichmäßigen Licht. Es füllte das Zimmer, obwohl die Fenster nach Norden gingen. Es füllte jeden Raum, jeden Winkel, es bleichte die Nächte und dünnte den Schlaf aus; es filterte, was von der Außenwelt zu ihr drang. Als schwebte sie in der Mitte eines Ballons, der mit diesem Licht gefüllt war, so dass alles, was draußen lag, schemenhaft wurde, zweidimensionale Formen auf der Außenhülle des Ballons.
    »Lunch?«
    Maria. Sie stand in der Tür, leicht außer Atem, die Bluse zerknittert: alles wie immer. Wach und direkt. Maria, die nichts Dumpfes oder Verschwommenes duldete, deren Stimme jeden Ballon durchdrang. Maria, deren Absatzklackern den Rhythmus des AIMSEP bestimmte, Klackklack den Gang hinunter, kurze Stille, Klackklack wieder zurück; ständig und überall, stets in Eile, der Taktgeber des Instituts.
    »Okay.« Sie schaltete den Computer in den Ruhezustand.
    »Timo’s coming too.« Marias britisches Englisch war voller Kanten. »Where’s Rukman?«
    Dass sie Englisch miteinander sprachen, fühlte sich fremd an, ihre Sprache war immer Deutsch gewesen; obwohl Maria mit dem Deutschen kämpfte wie mit einem störrischen Reittier, trotz deutschstämmigem Vater, trotz Studium in Gießen. Auf Deutsch hatten sie sich kennengelernt. Auf Deutsch hatte Maria ihre Geschichten erzählt, wenn sie in Marsberg zu Besuch war, Geschichten von ihrer Arbeit in Afrika, voller Staub und fremder Gerüche, weite, freie Geschichten.
    »Photocopying«, sagte sie, und Maria verdrehte die Augen: Rukman musste in vier Wochen nach Sri Lanka zurückkehren und wollte offenbar die gesamte Bibliothek des AIMSEP kopiert und säuberlich geheftet exportieren.
    Sie nahm ihr Portemonnaie aus dem Fahrradkorb, die Schlüssel vom Schreibtisch, und folgte Maria hinaus. Timo wartete auf dem Gang, er lächelte ihr zu und warf den Kopf zur Seite: »Hej.« Katta beschnupperte ihre Hand und wedelte gemessen mit dem Schwanz.
    »Hej, Timo.« Sie beugte sich über Katta und zauste ihr das kurze Fell.
    »Wir wollen zum Italiener«, sagte Timo auf Dänisch.
    »Okay.«
    Sie schloss ab; dabei spürte sie Marias Blick, und als sie sich umdrehte, fragte Maria leise auf Deutsch: »Kopfschmerzen?«
    Sie hob nur die Schultern, sie wollte nicht darüber reden. Reden half nicht. Sich zu bewegen war besser, laufen, tanzen, jemanden lieben: dass man die Dinge wieder spürte, dass man sich einreden konnte, man sei wie Timo; Timo, der nichts vom Ausdünnen der Welt wusste, der immer er selbst war, Datenbankexperte und Freund.
    Sie ging zum Treppenhaus, stieß die Glastür auf, lief die Treppe hinunter und hinaus in den Sommer. Es war Ferienzeit, die Fahrwege und Fahrradständer leer, der Campus still wie ein schallgedämpfter Raum. Die anderen folgten ihr ins Freie. Sie bogen nach rechts ab, den Hügel hinunter. Dhanavati hob einen Stock vom Rasen auf und hielt ihn Katta hin. Die Hündin schnupperte flüchtig und wandte sich ab.
    »Sie ist heute schon genug gelaufen«,

Weitere Kostenlose Bücher