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Visby: Roman (German Edition)

Visby: Roman (German Edition)

Titel: Visby: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Slawig
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Erfüllung. Denn es ereignete sich nichts. Die drei Männer kamen nicht wieder. Dhanavati rief nicht an. Adrian ging seiner Arbeit nach wie gewöhnlich, kam pünktlich nach Hause, spielte mit Nina Federball, arbeitete nach dem Essen an dem alten, halb überholten Segelboot, das er vor über einem Jahr billig von einem Kollegen gekauft hatte und das seitdem bei uns im Schuppen lag.
    Alles schien genau wie immer. Nur wenn wir allein waren, stellte sich befangenes Schweigen ein, aber wir waren nicht oft allein. Mir war vorher nie bewusst geworden, wie ausgefüllt unsere Tage waren. Wie selten es nichts zu erledigen gab. Wie häufig Freunde mit uns in der Küche oder im Wohnzimmer saßen. Erst nachts, vor dem Einschlafen, wenn wir nebeneinander im Dunkeln lagen, entstand eine Stille, die wir mit Reden hätten füllen können. Dann spürte ich manchmal, wie Adrian neben mir auf Fragen wartete. Aber die Fragen, die ich gern gestellt hätte, ängstigten mich zugleich, und mit jeder Nacht, in der ich sie nicht aussprach, wuchs die Angst. Und dann kam schon der Sonnabend, an dem ich vor dem Abendessen irgendetwas aus der Kammer holen wollte und Adrian vor dem Computer antraf. Als ich hereinkam, fuhr er mit dem Mauszeiger nach rechts oben und ließ das Fenster verschwinden, aber da hatte ich schon den Schriftzug unserer Bank erkannt und darunter das Wort Kontenübersicht .
    »Ich wusste gar nicht, dass wir übers Internet an unser Konto kommen«, sagte ich.
    Erst saß er still da, dann öffnete er das Fenster wieder. »Ich hab das vor ein paar Tagen eingerichtet. Wir können unsere Rechnungen jetzt von hier aus bezahlen. Das ist bequemer.«
    Wann, hätte ich fragen sollen. Wann hast du das eingerichtet? Nachts, während ich schlief? Und warum hast du es nicht längst erwähnt?
    »Was ist unbequem daran, in der Mittagspause zur Bank zu gehen? Ich finde es unbequem, den Computerkram zu lernen.«
    »Du musst es nicht lernen.« Er drehte sich nicht zu mir um. »Du kannst trotzdem zur Bank gehen und deine Formulare einwerfen. Ich finde das hier übersichtlicher.«
    »Übersichtlicher. Wozu brauchen wir mehr Übersicht, bei einem Konto und den paar Überweisungen im Monat?«
    Er antwortete nicht, sondern schob den Mauszeiger auf Abmelden , schloss alle Fenster und schaltete den Computer aus. Dann drehte er sich vom Schreibtisch weg und sah zu mir auf. Setzte zum Sprechen an, zögerte, setzte neu an.
    »Ich muss für ein paar Tage verreisen.«
    Liebste Annika, ich gehe weg …
    Ich weiß nicht, was ich geantwortet habe. Gar nichts vielleicht. Vielleicht stand ich nur da und hörte zu, während er mir irgendetwas von Zugfahrplänen und Bussen erzählte und dass er das Auto hierlassen würde, für den Fall, dass er doch etwas länger wegblieb.
    Für den Fall.
    »Warum?«, fragte ich schließlich in sein Gerede hinein. Meine Stimme war so rau, dass ich das Wort selbst kaum verstand. Ich räusperte mich und versuchte es neu. »Warum wirfst du alles weg, sobald sie in Schwierigkeiten ist?«
    Er schien nicht zu wissen, was er antworten sollte. Viel später erst wurde mir klar, dass er vermutlich tatsächlich nicht sicher war, wen ich mit sie meinte und wie viel die Männer mir erzählt hatten. Ich war gefangen in meinen Ängsten und Hoffnungen, genau wie er. Wir konnten beide nicht mehr unterscheiden, was wir dachten und was wir ausgesprochen hatten.
    »Ich werfe doch nichts weg«, sagte er endlich, »ich komme doch wieder.«
    Und er wiederholte diesen Satz, wann immer ich an diesem Abend mit ihm zu reden versuchte. Während er packte. Während er die Nummer seines Chefs wählte, um ihm mitzuteilen, dass er am Montag nicht zur Arbeit kommen konnte: »Ein Notfall«, sagte er am Telefon, und »ein paar Tage«. Und zu mir, nach dem Auflegen: »Ich werfe doch nichts weg.« Als wäre der Satz ein Zauberspruch, der einen Wunsch in eine Tatsache verwandeln konnte. Aber sein Blick war der eines Menschen, der an der Zugtür »Auf Wiedersehen« sagt und dabei schon an sein Fahrtziel denkt. Innerlich war er längst fort. Bei Dhanavati. Dem kleinen Mädchen mit steifen Zöpfen. Der Mathematikerin.
    Das dachte ich damals. Als er am nächsten Morgen noch vor Sonnenaufgang das Haus verließ und am Straßenrand auf das Taxi wartete, das ihn zum Bahnhof fahren sollte – als ich ihm vom Mansardenfenster aus nachschaute, sah ich ihn in Gedanken irgendwo auf der Welt aus dem Zug steigen und eine junge Frau in den Arm nehmen, die zwar nicht seine Tochter war,

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