Visionen Der Nacht: Der Geheime Bund
einfach mit, und sie konnte sich der Wirkung nicht entziehen. Es gab keine andere Möglichkeit, als nachzugeben …
Du wolltest ihm helfen, mahnte eine schwache innere Stimme. Also hilf ihm. Gib. Gib ihm, was er braucht.
Kaitlyn spürte ein Reißen, und dann brach der Damm. Es war, als habe sich eine Schranke geöffnet, habe dem Druck nachgegeben. Sie zitterte heftig – und spürte, dass sie wirklich gab.
Noch immer tat es weh, nun allerdings anders. Auf eine merkwürdige Art war es fast angenehm. Als ließe ein Schmerz nach, als würde eine Blockade gelöst.
Kait hatte selbst schon mehrmals Energie empfangen,
hatte Robs heilende Kräfte erhalten, als sie schwach und erschöpft gewesen war. Doch sie hatte noch nie selbst gegeben, jedenfalls nicht in diesem Ausmaß. Jetzt fühlte sie einen Energiestrom wie eine Flut aus goldenen Funken von ihr zu Gabriel fließen. Und sie spürte, wie er reagierte, wie er die Energie trank, gierig, dankbar. Die Dunkelheit in ihm, das Schwarze Loch, leuchtete golden.
Leben, dachte Kaitlyn benommen. Ich gebe ihm Leben. Er braucht es, er würde sonst sterben.
Und dann: Fühlte so ein Heiler? Kein Wunder, dass Rob es so gern tat. Es gab nichts Schöneres, vor allem, wenn man helfen will.
Die meiste Zeit allerdings dachte sie gar nichts. Sie spürte es einfach, spürte, wie Gabriels Hunger langsam nachließ, wie das glühende Verlangen in ihm abkühlte. Sie spürte seine Verblüffung, sein Erstaunen.
Er war jetzt kein Tier mehr, sondern Gabriel. Der Gabriel, der sie vor dem Schmerz des großen Kristalls in Mr. Zetes’ Labor bewahrt hatte, der Gabriel, der Tränen in den Augen gehabt hatte, als er über seine Vergangenheit sprach. Kaitlyn war es einmal mehr gelungen, einen Blick hinter seine Mauern zu werfen. Sie sah, sie berührte den Gabriel, der sich vor der Welt verbarg.
Das ist anders. So ist es anders. Der Gedanke kam fast wie ein Flüstern, erschütterte Kaitlyn jedoch mit
seiner Kraft, seiner Intensität. Dahinter war Gabriels Überraschung zu spüren, seine Dankbarkeit und so etwas wie Ehrfurcht. Anders … als ich mir gestern Energie beschafft habe … war es anders.
Und weil Gabriels Geist offen war für Kaitlyn, wusste sie, was er meinte. Sie sah das Mädchen von der Nacht zuvor, das Mädchen mit den strubbeligen Haaren und der Einhorn-Tätowierung. Sie konnte die Angst des Mädchens schmecken, ihre Qual, ihren Ekel.
Sie wollte das nicht, sagte sie. Du hast sie gezwungen. Sie wollte dir nicht helfen. Ich schon.
Warum?
Diese Frage traf sie mit voller Wucht. Der Druck von Gabriels Händen an ihren Schultern hatte zugenommen, als er diesen Gedanken losschickte. Sie hatte ihren Körper eine ganze Weile nicht mehr gespürt. Jetzt wurde ihr klar, dass Gabriel und sie sich aneinanderklammerten, dass sie sich noch immer am Transferpunkt berührten. Das lockige Mädchen, sein Opfer, lag neben ihnen am Boden.
Warum?, wiederholte Gabriel fast brutal. Er bestand auf einer Antwort.
Weil du mir wichtig bist!, gab Kaitlyn zurück. Die Intensität der Energieübertragung hatte nachgelassen, doch noch immer war die Verbindung zu spüren. Und Kaitlyn erahnte ein nahendes Schwindelgefühl.
Sie ignorierte es. Mir ist wichtig, was mit dir geschieht, weil ich …
Plötzlich und ohne Vorwarnung riss sich Gabriel los. Kaitlyn sprach nicht mehr aus, was sie hatte sagen wollen.
Der Moment, in dem der Kontakt abbrach, war fast so schlimm wie der, in dem er hergestellt worden war. Kaitlyns Augen öffneten sich unwillkürlich. Sie sah die Welt um sich herum und hatte trotzdem das Gefühl, blind zu sein. Blind und schrecklich allein. Sie spürte zwar Gabriel noch über das Netz, doch das war nichts gegen die Vertrautheit der direkten Energieübertragung.
Gabriel …
»Es reicht«, sagte er laut. Innerlich baute er wohl schon wieder an seinen Schutzmauern. »Mir geht es wieder gut. Du hast getan, was du tun wolltest.«
»Gabriel«, sagte Kaitlyn. In ihr breitete sich eine unendliche Traurigkeit aus. Ohne weiter nachzudenken, hob sie die Hand, um sein Gesicht zu berühren.
Gabriel zuckte zurück.
Gekränkt presste Kait die Lippen zusammen.
»Nicht«, sagte Gabriel. Dann sah er kopfschüttelnd weg. »Ich will dich nicht verletzen, verdammt noch mal!«, sagte er scharf. »Es ist nur … Weißt du denn gar nicht, wie gefährlich das war? Ich hätte dich aussaugen können. Ich hätte dich umbringen können.«
Dann sah er ihr direkt in die Augen, mit einer Heftigkeit, die Kaitlyn Angst
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