Visionen Der Nacht: Der Geheime Bund
Beute zu erlegen.
Lauf, mahnte etwas in Kaitlyn. Er wird töten, und es kann ebenso gut dich treffen wie das Mädchen da. Sei klug und lauf …
»Gabriel, hör mir zu, ich tue dir nichts.« Kaitlyn
stieß die Worte abgehackt aus, keuchend, schaffte es aber immerhin, abwehrend die Hände auszustrecken. »Gabriel, ich weiß, warum du das tust. Ich spüre, dass du es brauchst. Aber es muss eine andere Möglichkeit geben.«
»Hau endlich ab«, zischte Gabriel. Kaitlyn ignorierte die Angst und die Übelkeit in ihrem Magen und machte einen Schritt auf ihn zu. Denk nach, ermahnte sie sich verzweifelt. Denk nach, sei vernünftig – denn er ist es mit Sicherheit nicht.
Gabriels Lippen öffneten sich und legten seine Zähne offen. Er zog das Mädchen an sich, als wolle er seine Beute vor einem Eindringling schützen. »Komm nicht näher.«
»Geht es um Energie?« Kaitlyn wagte es nicht, einen weiteren Schritt zu tun, sondern ging stattdessen auf die Knie, sodass sie ihm Angesicht zu Angesicht gegenübersaß. Seine Augen waren wie zwei Fenster, die sich in die Dunkelheit öffneten. »Du brauchst Lebensenergie. Ich spüre es doch. Ich spüre, wie weh das tut …«
»Gar nichts spürst du! Mach, dass du fortkommst, sonst wird es dir noch leid tun!« Er stieß es gequält hervor, doch dann war er plötzlich still. Eine tödliche Ruhe breitete sich auf seinem Gesicht aus, und seine Augen verwandelten sich in schwarzes Eis. Kaitlyn spürte seine Entschlossenheit.
Als wäre sie gar nicht da, wandte er sich ganz dem Mädchen in seinen Armen zu. Es hatte weiches lockiges Haar, dunkelblond oder hellbraun. Auf Kait machte sie einen fast friedlichen Eindruck. Gabriel hatte sie scheinbar betäubt.
Er drehte ihr den Kopf zur Seite und strich die wilden Locken aus dem Nacken. Kaitlyn sah wie gelähmt zu, entsetzt von der Bedächtigkeit seiner Bewegungen.
»Genau hier«, flüsterte Gabriel und berührte das Mädchen im Genick, dort, wo die Wirbelsäule endet. »Hier ist der Transferpunkt. Hier kann man am besten Energie entnehmen. Du kannst bleiben und zusehen, wenn du willst. «
Seine Stimme war scharf wie der arktische Wind. Gabriel starrte den Nacken des Mädchens an, das kalte Verlangen in den Augen, die Lippen leicht geöffnet.
»Nein!«
Kait handelte ohne zu überlegen. Plötzlich war sie in Bewegung, warf sich auf Gabriel, legte die eine Hand auf das Genick des Mädchens, die andere auf Gabriels Gesicht. Sie spürte seine Lippen und dann seine Zähne.
Halt dich da raus! Gabriels Ruf war so mächtig, dass Kaitlyn von seinen Stoßwellen erschüttert wurde. Doch sie ließ nicht los.
Lass sie los!, rief er. Kaitlyn sah nichts als Rot, spürte
nichts mehr, war vollständig eingehüllt von Gabriels rasender Wut, seinem unstillbaren Verlangen. Er war ein knurrendes, kratzendes Tier – und sie kämpfte dagegen an.
Doch sie hatte keine Chance. Sie war schwächer, körperlich wie geistig, und er hatte absolut keine Skrupel. Er zog das Mädchen von ihr weg. Wie ein Schwarzes Loch war sein Geist bereit, alles zu verschlingen.
Nein, Gabriel, dachte Kaitlyn – und küsste ihn.
Darauf lief es zumindest hinaus. Sie hatte eigentlich etwas anderes vorgehabt, wollte ihre Stirn auf seine legen, so, wie Rob sie berührt hatte, um ihr die heilende Energie zu übertragen. Doch die Berührung seiner Lippen war ein absoluter Schock, und es dauerte einen Moment, bevor sie sich wieder aufrichten konnte.
Auch Gabriel war geschockt und wirkte plötzlich wie versteinert. Er war wohl zu überrascht, um sich gegen sie zu wehren oder zurückzuweichen. Er saß einfach nur da, während Kaitlyn die Augen schloss, ihn an den Schultern packte und ihre Stirn auf seine legte.
Oh.
Diese einfache Berührung, Haut an Haut, drittes Auge auf drittem Auge, brachte sie vollends aus der Fassung. Kaitlyn durchzuckte es wie ein Blitz, als hätten
sich zwei blanke elektrische Kabel berührt und leiteten den Strom durch sie hindurch.
Oh, dachte sie. Oh …
Es war eine beängstigende Erfahrung, beängstigend in ihrer schieren Kraft. Für einen Augenblick tat es auch weh. Sie spürte ein Ziehen im Körper, in den Blutbahnen, als würde etwas aus ihr herausgezogen. Ein lebensbedrohlicher Schmerz nagte an der Wurzel ihres Seins. Schwach, mit dem kleinen Teil ihres Bewusstseins, der noch denken konnte, fiel ihr ein, was Gabriel einst gesagt hatte. Dass die Menschen Angst hatten, er würde ihnen ihre Seele rauben. Und so fühlte es sich jetzt an.
Aber es riss sie
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