Visionen Der Nacht: Der Tödliche Bann
Nähe. Ihr fiel nichts anderes ein, als sich aufzurichten und so zu tun, als sehe sie den Mann gar nicht. So zu tun, als habe sie keine Angst.
Er war nur noch wenige Schritte entfernt. Einen kurzen Moment schien die Straßenbeleuchtung unter die Kapuze seiner Jacke, und Kaitlyn sah sein Gesicht.
Er war ein alter Mann mit grauen Haaren und freundlichem Gesicht. Er sah ein wenig überrascht aus, und seine Lippen bewegten sich, während er ging oder, besser gesagt, schlurfte. Deshalb war er auch so langsam. Er war einfach alt.
Vielleicht, dachte Kaitlyn plötzlich, er ist auch hungrig. Mich würde es hungrig machen, wenn ich um vier Uhr morgens einen Einkaufswagen durch die Gegend schieben müsste.
Es war einer dieser Augenblicke, in denen sie handelte, ohne zu denken. Sie zog das Schinkenbrot aus der Reisetasche.
»Wie wär’s mit einem Sandwich?«, fragte sie. Genau diese Worte hatte auch der Busfahrer benutzt. »Schinken. «
Der alte Mann nahm das Brot. Sein Blick ruhte einen Moment auf Kaitlyn, ehe er sie freundlich anlächelte. Dann schlurfte er weiter.
Kaitlyn war glücklich.
Als der Bus endlich kam, war ihr kalt, und sie war hundemüde. Diesmal war es kein angenehmer Bus wie der der Linie N. Dieser war außen mit Graffiti beschmiert und hatte innen kaputte Vinylsitze. Auf dem Boden klebte Kaugummi, und es roch nach Toilette.
Doch Kaitlyn war zu müde, als dass sie sich etwas daraus gemacht hätte. Sie war sogar zu müde, den Fahrer zu fragen, ob sie sich hinter ihn setzen durfte. Auch dem großen Mann mit dem zerschlissenen Mantel schenkte sie keine Beachtung – bis er mit ihr zusammen ausstieg.
Da fiel ihr auf, dass er ihr folgte. Es waren noch neun oder zehn Querstraßen bis zum Institut, und an der dritten war sie sich sicher. Was ihr in den dunklen Straßen von Oakland und San Francisco erspart geblieben war, geschah hier.
Aber vielleicht wollte er ja gar nichts von ihr? Wie der Mann mit dem Einkaufswagen. Aber der hatte sie nicht verfolgt.
Was sollte sie tun? Bei jemandem an die Tür klopfen? Sie befand sich in einem Wohngebiet, doch alle Häuser waren dunkel. Weglaufen? Kaitlyn war eine ausdauernde Läuferin, und sie konnte ihm vielleicht entkommen, falls er nicht so gut in Form war.
Doch sie brachte es nicht über sich, überhaupt etwas zu unternehmen. Ihre Beine trugen sie mechanisch weiter durch die Exmoor Street, während ihr bei dem Gedanken
an den Mann hinter ihr kalte Schauer über den Rücken liefen. Es war wie in einem Traum, in dem die Monster sie nicht einholen konnten, solange sie keine Angst zeigte.
Als sie um eine Ecke bog, blickte sie sich kurz um. Er hatte fuchsrotes Haar, das konnte sie im Licht einer Straßenlaterne sehen. Die Kleider waren verschlissen, doch er sah stark und durchtrainiert aus – wie jemand, der ein siebzehnjähriges Mädchen auf der Flucht leicht einholen konnte.
Das jedenfalls sah sie mit den Augen. Mit ihrem sechsten Sinn, der ihr manchmal auch die Zukunft zeigte, nahm sie kein Bild wahr, sondern einen Eindruck. Bosheit. Der Mann war böse, gefährlich und vollgestopft mit üblen Gedanken. Er hatte Schlimmes mit ihr vor.
In Kaitlyn war plötzlich alles klar und kalt. Die Zeit schien langsamer zu vergehen. Kaitlyns Instinkte waren aufs Überleben ausgerichtet. In ihrem Kopf schwirrte es, doch egal, wie sie es drehte und wendete: Die Situation blieb immer dieselbe. Verhängnisvoll. Ihr kam kein Geistesblitz, wie sie sich retten konnte.
Neben diesem Schwall an Gedanken hörte sie in sich gebetsmühlenartig die Worte: Ich hätte mir doch denken können, dass das nicht funktioniert. Nachts allein durch die Stadt zu spazieren! Ich hätte es wissen müssen.
Denk dir was aus, Mädchen. Denk nach. Wenn du nicht weglaufen kannst, musst du einen Zufluchtsort finden. Schnell.
Die Häuser um sie herum waren dunkel und wohl allesamt abgeschlossen. Sie spürte die grässliche Gewissheit, dass niemand sie reinlassen würde … Aber sie musste etwas unternehmen. Kait gab sich einen Ruck, und schon war sie abgebogen und hielt auf das nächste Haus zu. Sie nahm die Stufe zur Veranda mit einem Sprung und landete auf der Fußmatte. Trotz ihrer Notlage widerstrebte es ihr, an die Tür zu klopfen, doch sie setzte sich über ihre Bedenken hinweg und tat es einfach. Die dumpfen Schläge hallten in der Stille der Nacht wider, allerdings für Kaitlyns Geschmack nicht laut genug. Sie sah eine Klingel und drückte verzweifelt darauf. Immer weiter hämmerte sie gegen die
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