Visionen Der Nacht: Der Tödliche Bann
terrorisieren zu lassen. Doch nun, da er seinen Weg gewählt hatte, brauchte er
Zetes. Der Alte verfügte über die Struktur, die Organisation, die Kontakte. Gabriel wollte das für seinen Aufstieg nutzen.
Er überlegte sich gerade, ob er doch ins Haus zurückkehren sollte, als ein Schrei durch sein Bewusstsein schnitt. Es war kein hörbares Geräusch, sondern ein mentaler Ruf. Hass und Wut waren darin zu spüren, aber auch Angst. Es war Kaitlyn.
In der Nähe. Nordwestlich, dachte er. Er war auf den Beinen, bevor er überhaupt darüber nachdachte. Wahrscheinlich hätte er es gar nicht erklären können, wenn ihn jemand gefragt hätte.
Er bewegte sich mit den geschmeidigen, weit ausgreifenden Schritten eines jagenden Wolfes. Wieder hörte er einen Schrei – er kam von jemandem, der um sein Leben kämpfte. Gabriel beschleunigte seine Schritte und folgte der Wahrnehmung.
Ivy Street. Dort kam der Hilferuf her, und da sah er im Licht der Straßenlaterne auch schon Kaitlyn auf der Straße liegen. Noch immer hörte er sie nur in seinem Kopf. Kaitlyn schrie nie laut, wenn sie in Schwierigkeiten war.
In kürzester Zeit war Gabriel bei den beiden miteinander ringenden Gestalten. Ein rothaariger Mann hatte sich auf Kaitlyn gestürzt, die, am Boden liegend, nach ihm biss, trat und kratzte. Der Mann hatte einige Verletzungen davongetragen, doch am Ende würde er die
Oberhand behalten. Er war schwerer, stärker und ausdauernder als sie.
Ein Déjà-vu, dachte Gabriel. Vor nicht allzu langer Zeit hatte er hinter dem Institut einen anderen Mann unschädlich gemacht, der auf Kaitlyn losgegangen war. Wie sich herausstellte, hatte er zur Gemeinschaft gehört. Dieser hier, dachte Gabriel mit einem kurzen Blick auf das ungewaschene Haar und die unappetitliche Erscheinung des Angreifers, war wohl schlicht ein Penner.
Gabriel könnte einfach alles laufen lassen. Der Alte wäre nur allzu glücklich, wenn er erführe, dass Kaitlyn tot war. Eine weniger, die ihn daran hinderte, sich den Kristallsplitter zu holen. Aber …
Diese Gedanken durchzuckten Gabriel innerhalb von Sekundenbruchteilen. Bevor er auch nur bewusst zu einem Entschluss gekommen war, ging er schon auf den Mann los.
Er packte den dreckigen Mantel von hinten und riss den Rothaarigen nach oben. Kaitlyn rollte sich zur Seite. Er hörte ihren überraschten Ruf. Gabriel!
Sie hatte ihn also noch gar nicht bemerkt. Wahrscheinlich hatte sie genug damit zu tun gehabt, am Leben zu bleiben. Der Mann versuchte, sich von Gabriel loszureißen und schlug nach ihm.
Gabriel duckte sich. Mit einer ruckartigen Bewegung schnappte das Messer an seinem Unterarm heraus. Gabriel
schloss die Hand darum, spürte das Gewicht, die weiche Oberfläche des Knaufs.
Der Mann starrte ihn mit aufgerissenen Augen an.
Wie im Film, dachte Gabriel und schwenkte das Messer zur Übung einmal hin und her. Die Augen des Rothaarigen folgten der Bewegung. Er hatte Angst. Gabriel konnte sie bereits schmecken.
Mach dir keine Gedanken um das Messer, dachte er in dem Wissen, dass der Mann ihn nicht hören konnte. Denn das Messer diente nur der Ablenkung, damit der andere ihn im Auge behielt, während er …
Gabriels andere Hand hob sich fast anmutig, anmutig und verstohlen, und berührte den Mann im Nacken, knapp oberhalb des schmutzigen Mantelkragens.
Seine Finger tasteten nach dem Transferpunkt. Mit dem Mund fand er ihn leichter, doch er wollte an diesen dreckigen Abschaum nicht näher heran als nötig. Er spürte den Durchbruch. Der Rothaarige erstarrte, seine Muskeln zuckten. Dann floss der Energiestrom wie blauweißes Licht durch den Transferpunkt auf ihn zu. Die Lebensenergie sprudelte durch die Luft in Gabriels Finger und rauschte durch Kanäle kreuz und quer durch seinen Körper, wärmte ihn.
Ahhhh.
Es war wie ein kühles Getränk an einem heißen Sommertag, in einem hohen Glas mit Eiswürfeln, die innen gegen die Wand des Glases klirrten, während sich außen
die kühlen Kondenstropfen sammelten. Und es war wie ein neuer Schub in einem Langstreckenlauf, das plötzlich einsetzende Gefühl von Kraft, Frieden und Ausdauer. Es war, als stünde man am Bug eines Katamarans und ließe sich den Wind ins Gesicht wehen. Keiner dieser Vergleiche traf völlig zu, doch alle erinnerten an die erfrischende, vitalisierende, erregende Wirkung, die der Energietransfer mit sich brachte.
Gabriel trank reines Leben, das war es. Und obwohl es von diesem dreckigen Abschaum kam, schmeckte es gut. Der widerliche,
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