Visite bei Vollmond
für alle Fälle
â¦
»Warte kurz«, wies ich sie an
und stand auf. Nachdem ich die Saugglocke wieder weggeräumt hatte, ging ich ins
Schlafzimmer und suchte mir etwas zum Anziehen.
Meine Weihnachtsorganisation
ging nicht so weit, dass ich mir einen Baum anschaffte, was auch wenig Sinn
gehabt hätte. Wenn man alleine lebt und Nachtschichten schiebt, ziehen die
Feiertage einfach so an einem vorbei. Aber ich hatte einen schwarzen Schal für
Anna besorgt â einerseits, weil es ein passendes Geschenk zu sein schien,
andererseits, weil ich ihn auch selbst getragen hätte, falls es nicht zu einem Wiedersehen
gekommen wäre.
Mit einem ordentlichen
Pferdeschwanz und in warmen Klamotten kehrte ich ins Wohnzimmer zurück und
machte die Deckenlampe an. GroÃvater hielt in der Küche murmelnd Gideon in
Schach, der, soweit ich das sehen konnte, seine Waffe weggesteckt hatte. Als
ich den kleinen Geschenkstapel auf dem Tresen durchsuchte, musterte er mich
zwar aufmerksam, zog aber nicht die Pistole. Ich kehrte auf die Couch zurück.
»Ich habe dir etwas gekauft.«
»Ein Geschenk?«
»Ein Weihnachtsgeschenk.« Ich
überreichte ihr die Schachtel. Sorgfältig löste sie die Klebestreifen an den
Ecken und strich anschlieÃend das Geschenkpapier glatt, genau wie meine
GroÃmutter, die es immer aufgehoben und wiederverwendet hatte. »Ich weià gar
nicht, ob du überhaupt frieren kannst. Aber falls doch â¦Â«, erklärte ich lahm,
während sie den Geschenkkarton aufklappte, in dem der Schal lag.
»Verglichen mit den Wintern
meiner Kindheit ist das Klima hier harmlos.« Sie nahm den Schal aus der
Schachtel und wickelte ihn sich um den Hals. Da sie einst aus Russland
hierhergekommen war â zu einer Zeit, als es dort noch einen Zaren gab â,
glaubte ich ihr das sofort. Sanft strich sie über den Stoff und lächelte mich
an. »Ich habe auch etwas für dich.« Sie griff nach einer Tasche, die sie neben
der Couch abgestellt hatte, und wühlte darin herum.
Das war eine Ãberraschung. Anna
war zwar der netteste Vampir, dem ich bisher begegnet war, aber bei Vampiren
war das ungefähr so, als würde man bei den Anonymen Alkoholikern den Teilnehmer
mit der niedrigsten Promillezahl loben. Als ich kurz zu Gideon hinübersah,
entdeckte ich in seiner Miene etwas, das ich nicht ganz zuordnen konnte â¦
Eifersucht? War er etwa ihr Tageslichtagent? Aber warum sollte ein
Tageslichtagent auf mich eifersüchtig sein?
Als Anna sich wieder zu mir
umdrehte, hatte sie eine kleine Holzkiste auf dem SchoÃ. Sie war mit
Schnitzereien versehen und lieà mich irgendwie an die Schatulle denken, in
welcher der Jäger Schneewittchens Organe zur bösen Königin bringen sollte.
»Das ist kein richtiges
Geschenk, Edie. Tut mir leid, aber ich habe vergessen, dass Weihnachten ist«,
erklärte Anna und streckte mir das Kästchen entgegen.
»Ich hatte mir schon gedacht,
dass Vampire wahrscheinlich nicht viel mit christlichen Feiertagen am Hut
haben.« Ich nahm ihr die Kiste ab. Sie war ziemlich schwer und reich verziert.
Das Holz war dunkel und oben auf dem Deckel prangte ein goldenes Wappen mit
einer Rose. Da ich schon einigen Vertretern des Throns der Rose begegnet war,
ging ich stark davon aus, dass es echtes Gold war. Ich musste eine Weile am
Deckel herumfummeln, bis ich den Mechanismus entdeckte, durch den er sich
öffnen lieÃ. Obenauf lag ein cremefarbener Umschlag aus dickem Papier, in dem
sich eine Karte befand, die mit so verschnörkelten Buchstaben beschrieben war,
dass man sie kaum entziffern konnte. Unschlüssig drehte ich die Karte hin und
her. »Sag mir doch einfach, wo die Party steigt.«
Anna schnaubte. »Das ist eine
offizielle Einladung zu meiner Initiationszeremonie. Sie wird in der
Silvesternacht stattfinden, um Mitternacht.«
»Initiation wofür?«, fragte ich
ausweichend. Feiertagsschichten wurden mit dem eineinhalbfachen Satz bezahlt.
Und da ich durch meine Verletzungen eine Weile ausgefallen war, ernährte ich
mich inzwischen nur noch von Erdnussbutterbroten. Die Schichten an Weihnachten
und Silvester würden meinem Konto richtig guttun.
»Das Sanguinium. Das ist die
herrschende Ratsversammlung des Throns der Rose. Dabei werden sie mir die
Erlaubnis erteilen, meine eigene Blutlinie zu gründen. Das ermöglicht es mir,
mein eigenes Kabinett zu haben, natürlich unter der
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