Vogelfaenger
Wälder sind eindeutig sein Terrain. Er kann vermeiden, bei jedem Schritt so viele Zweige knacken zu lassen, dass es sich anhört, als bräche ein Elefant durchs Gehölz, und er weiß, welcher Baumstamm dick genug ist, ihn zu verbergen. Wahrscheinlich hat er auch längst mitgekriegt, dass ich hinter ihm her bin.
Ich könnte auf Ida warten, aber die ist mir nicht gefolgt, steht noch am Strand und telefoniert. Ich weiß nicht mehr, wie ich sie einschätzen soll. Ruft sie Hilfe? »Papa, fahr schneller, Nele ist in Gefahr!« Oder sagt sie ihm vielleicht, dass er gar nicht mehr kommen braucht? Wenn sie bedingungslos zu mir und Rocky stünde, würde sie dann nicht längst loslaufen, um mir beizustehen? Hat sie mich nicht um meinen Urlaub betrogen und Rocky der Gefahr ausgeliefert, indem sie mir nichts über ihren gefährlichen Ex erzählt hat?
Während ich dastehe und warte und mit mir ringe, glaube ich plötzlich, Rocky zu hören. Fern undfremd klingt der Laut, aber er ist eindeutig ein Hundewinseln. Ohne weiter zu überlegen, sprinte ich den Waschhaushügel hinunter und in das Dickicht hinein. »Rocky?!« Überall diese Dornen, Kletten, Stachelzweige!
Wieder das Winseln. Genauso kurz und prägnant wie zuvor. »Pass auf, Nele, der Kerl spielt mit dir. Der kann Rocky nicht plötzlich bei sich haben, der hat sein Winseln nur mit dem Handy aufgenommen«, warnt eine innere Stimme. Ich ignoriere sie. Ich weiß, dass sie recht hat, aber ich habe keine Wahl. Ich habe schon Tobias im Stich gelassen, bei Rocky werde ich es nicht wieder genauso machen.
Also zerteile ich mit meinen Armen den Busch vor mir. Eine gute Geste, die Kraft bringt, mich antreibt. Ich habe keine Lust, mich von dem Saftsack so einschüchtern zu lassen wie Ida! Ich bin nicht wie sie. Ich bin stärker. Ich bin auch vorgestern auf die Jungs vor dem Lastwagen zugegangen. Klar hatte ich Schiss. Eine Menge sogar. Aber ich hatte ein lohnendes Ziel. Genau wie jetzt.
Noch ein paar Schritte, noch ein Busch, der sich zur Seite schieben lässt und den Blick frei gibt.
Vor mir liegt ein lichter Waldstreifen, in dem keine Büsche und kleinen Bäume, sondern ausschließlich hohe Buchen stehen. Das Licht ist goldgrün, der Boden weich und mit alten Blättern bedeckt. Man hört meine vorsichtigen Schritte nicht, aber das spielt keine Rolle, denn Lars ist, wie ich jetzt sehe, etwa fünfzig Meter von mir entfernt stehen geblieben. Es sieht aus, als warte er auf mich.Kaum ist er sicher, dass ich ihn gesehen habe, läuft er weiter, als liefe er vor mir davon.
Oder als locke er mich fort. Ich darf ihm nicht folgen. Er hat einen Plan, den ich nicht durchschauen kann.
Aber ich liebe meinen Hund und ich bin ein gutgläubiger Mensch, der am Ende immer noch denkt, es könne gar nicht so schlimm sein, Tobias könne sich bei einem Fahrradsturz nicht ernsthaft verletzen und auch dieser Urlaub könne nicht wirklich schiefgehen, weil Urlaube in meinem Leben bisher immer gut waren.
Deshalb macht mein Herz jetzt einen Hüpfer, als ich Rockys echtes Bellen höre. Ich bin mir sofort sicher, dass es diesmal keine Handy-Aufnahme ist. Der Unterschied liegt in der Lautstärke, der Klarheit, Echtheit des Geräuschs. Rocky lebt und ist irgendwo hier.
Die Erleichterung, die ich darüber empfinde, ist unermesslich. Meine innere Warnstimme höre ich nicht mehr. Ich bin wie ein Kind, ein Schatzsucher, der endlich sein Ziel erreicht hat.
Ohne weiter zu zögern, lege ich die letzten fünfzig Meter unter den Buchen zurück. Dort, wo mein Gegner gerade noch stand, stoppe ich. Der Baumbestand hört abrupt auf und gibt den Blick auf eine große, grasbewachsene Lichtung frei. Etwa in der Mitte befinden sich ein hoher Stapel Holzstämme und ein paar große, unhandliche Geräte von Waldarbeitern. Daneben steht ein kleiner grauer Bauwagen mit weit geöffneter Tür auf der Schmalseite.
Rocky ist im Bauwagen, mit einer sehr schmalen Leine an der Wand angebunden, die der Tür gegenüberliegt.
Natürlich hat er mich bemerkt. Er bellt wie verrückt, zieht an seiner Fessel, steigt mit den Vorderbeinen hoch, rudert mit den Pfötchen, japst, jault. Er wird sich noch die Luft abschnüren, wenn er weiter so ein Theater macht, denke ich und spüre den kaum niederzukämpfenden Wunsch, ihn augenblicklich zu befreien.
Was aber, wenn das eine Falle ist? Dann werde ich wie eine vom Speck angelockte Maus hineinlaufen, damit sie hinter mir zuschnappen kann. Wenn ich es richtig verstanden habe, hat Lars-Vogelfänger
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