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Vogelfrei

Titel: Vogelfrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julianne Lee
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Er lebte, und er würde auch noch eine ganze Weile leben, während fast alle, die er liebte, schon lange tot waren. Er setzte sich auf. Ein kalter Schauer rann über seinen Rücken, sein ganzer Körper schien vor Energie zu vibrieren. Schließlich stand er auf; in dieser Nacht würde er ohnehin keinen Schlaf mehr finden.
    Brigid steckte noch in dem Kleiderbündel, das er aus dem Krankenhaus mitgebracht hatte. Er schob den Dolch in seinen Gürtel, dann verließ er das Apartment durch die Hintertür und stieg die hölzernen Stufen zum Rasen hinter dem Haus hinunter. Die Weide am Seeufer raschelte leise im Wind; die Zweige mit den wenigen verbliebenen gelblichen Blättern strichen ihm über den Rücken, als er unter sein Ruderboot kroch. Weidenrindentee. Die Erinnerungen drohten ihn schon wieder zu überwältigen.
    Die Ruder lehnten an der Bootswand. Dylan legte sie auf den Boden, dann hob er das Boot von den Böcken hoch und drehte es um. Es fiel mit einem dumpfen Krachen auf das Gras und blieb leicht schwankend liegen. Er legte die Ruder hinein, ging zum Bug und zerrte das Boot zum Wasser hinunter. Dort stieg er ein, stieß sich mit einem Ruder vom Land ab, befestigte dann die Ruder in den Dollen und glitt auf den dunklen See hinaus.
    Die Lichter von den Volleyballplätzen auf der Main Street überstrahlten die Sterne, spiegelten sich auf der schwarzen Wasseroberfläche wider und wurden immer kleiner, je weiter er auf den Hauptkanal des Sees zuruderte. Die Häuser zu beiden Ufern lagen im Dunkeln da; tiefe Stille herrschte, die nur vom gelegentlichen Rascheln der Blätter im Wind und dem leisen Klatschen der Ruderblätter unterbrochen wurde. Die leichte Brise wehte ihm die Haare ins Gesicht und er bekam eine Gänsehaut.
    Inzwischen hatte er gelernt, welche Macht allen Dingen seiner Umgebung innewohnte; dem Wasser unter ihm, der Luft um ihn herum, den Sternen über ihm. Er sah zum Himmel empor und spürte, dass er nicht in diese Zeit und in dieses Leben gehörte. Die Sterne rieten ihm, nach Hause zurückzukehren, aber auch sie konnten ihm nicht verraten, wie er das bewerkstelligen sollte.
    Langsam glitt das Boot über den dunklen See. An der Einfahrt zum Hauptkanal lag eine kleine, mit Büschen und Bäumen bewachsene Insel, dort legte er am steinigen Ufer an, zog das Boot an Land und verbarg es im Gestrüpp. Dann stieg er den Hügel zur Mitte der Insel empor. Dort gab es eine kleine Lichtung, wo Leute, die unerlaubt hier gezeltet hatten, eine Feuerstelle angelegt hatten. Während seiner High-School-Zeit hatte er hier oft mit Freunden wilde Partys gefeiert; sie hatten sich Geistergeschichten erzählt und mit Mädchen herumgemacht. Heute hatte er hier wichtigere Dinge zu tun.
    Er sammelte einen Arm voll trockenes Reisig und machte ein kleines Feuer, von dem eine dünne Rauchwolke aufstieg. Von einer in der Nähe wachsenden Zeder brach er einen grünen Zweig ab und warf ihn ebenfalls in die Flammen. Dann legte er Brigid neben dem Feuer nieder, streifte sich das Hemd über den Kopf, zog Schuhe und Socken aus und löste seinen Gürtel. Seine Jeans glitten zu Boden, gefolgt von seinen Shorts. Fröstelnd stand er da, in seinem Magen begann es zu kribbeln. Er spürte die kühle Nachtluft, die ihn einhüllte, das Mondlicht auf seiner Haut und legte eine Hand über das Kruzifix auf seiner Brust. Auch Caits Ring hing noch an der Kordel, er drückte sich warm gegen seine Handfläche.
    Sein Puls ging schneller. Er nahm Brigid und stellte sich neben dem Feuer auf, um sich zu sammeln. Der Wind strich sanft über seine Haut. Ein scharfer Geruch nach verbranntem Zedernholz lag in der Luft. Dylan hielt Brigid direkt über die Flammen, schritt dreimal entgegengesetzt zum Uhrzeigersinn um das Feuer herum, kauerte sich schließlich davor, schloss beide Hände um den Griff des Dolches und richtete die Spitze auf die Erde. Er holte einmal tief Atem und stieß ihn langsam wieder aus, dann blickte er in die Flammen und löschte jeden bewussten Gedanken aus seinem Kopf. Alle Zweifel am Gelingen dieses Unterfangens verflogen. Zweifel hätten seine Pläne von vornherein zum Scheitern verurteilt.
    Endlich stimmte er einen monotonen Gesang an. »A null e; a nall e; slàinte. Dolch des Feuers, Dolch der Macht, dessen Atem Leben schenkt.« Ein elektrischer Schlag schien seine Hände zu treffen und durch die Arme in seinen Körper zu fließen. Dylan schnappte nach Luft, versuchte, sich zu konzentrieren, und suchte nach den richtigen Worten, um die

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