Vogelfrei
eine Weile zu, wie sie die bunten Kugeln über den Tisch jagten. Der Junge zeigte seiner Freundin, wie sie das Queue halten musste. Dabei presste er sich von hinten so eng an sie, als ob er sie gleich hier auf dem Tisch bumsen wollte. Das Mädchen streichelte jedes Mal, wenn sie darauf wartete, wieder an die Reihe zu kommen, geistesabwesend über ihr Queue und tat so, als wüsste sie nicht, dass ihr Freund sie beobachtete. Dylan amüsierte sich im Stillen über die allzu deutliche Körpersprache der beiden, die jedem, der sie beobachtete, verriet, dass sie später zusammen im Bett landen würden. Die Zeiten hatten sich doch gewaltig geändert. Wenn er sich in Caits Gegenwart so benommen hätte, hätte ihr Vater ihn umgebracht.
Doch dann ging ihm auf, dass sich das Gehabe der beiden gar nicht so sehr von seinem und Caits Verhalten un-terschied, sie scherten sich nur weniger darum, ob andere Leute sie beobachteten. Vielleicht hätten Cait und er sich genauso benommen, wenn der Clan von ihrer Beziehung hätte wissen dürfen. Dieses junge Pärchen hier konnte tun und lassen, was es wollte, weil sich keine Menschenseele für es interessierte. Dylan dachte an all die Leute in Ciorram, die an seinem und Caits Glück aufrichtig Anteil genommen hatten, und war sich plötzlich nicht mehr so sicher, ob ihm die modernen Zeiten wirklich besser gefielen.
Doch nach kurzer Zeit merkte der junge Mann, dass er und seine Freundin beobachtet wurden. Er blickte auf und runzelte drohend die Stirn. Dylan merkte, dass er die beiden wohl doch zu auffällig angestarrt hatte. Er hob entschuldigend eine Hand und drehte sich wieder zur Bar um.
Am Fenster, das zum See hinausging, saß noch ein Mann. Er war allein und wirkte nicht so, als ob er an diesem Zustand etwas ändern wollte. So um die vierzig war er wohl, machte aber den Eindruck, als fühle er sich viel älter. Dylan ahnte, dass er hier eine interessante Geschichte zu hören bekommen könnte, wusste aber auch, dass er sich eine schroffe Abfuhr einhandeln würde, falls er versuchte, den Mann in ein Gespräch zu verwickeln.
Er starrte in sein Glas und dachte über die vergangenen zwei Jahre nach. Sein Leben in der Vergangenheit war nicht leicht gewesen. Allein wegen Cait hatte er in dieser Zeit, in diesem Land bleiben wollen. Seine Sehnsucht nach ihr war so stark, dass er fast wünschte, Sinann hätte ihn auf dem Schlachtfeld von Sheriffmuir sterben lassen. Als Cait in Edinburgh und er in Glen Dochart gelebt hatte, hatte er unter der räumlichen Trennung schon genug gelitten. Doch mit der zeitlichen Kluft, die jetzt zwischen ihnen lag - mehrere hundert Jahre -, wurde er einfach nicht fertig. Cait war tot, schon lange, lange tot...
Er musste an Ciaran denken. Tiefe Trauer stieg in ihm auf, denn auch sein Sohn war inzwischen schon lange tot. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. Sein Sohn, den er nie gesehen hatte, lebte seit vielen, vielen Jahren nicht mehr. Erschauernd trank er einen großen Schluck Ale, dann fuhr er fort, blicklos in sein Glas zu starren.
Alle, die er einst gekannt hatte, waren tot. Ihr Leben war auch ohne ihn weitergegangen, und nun war es vorüber, sein Leben dagegen lag noch vor ihm. Jeder Moment, der verstrich, entfernte ihn weiter von seinen damaligen Freunden.
Bis ins Innerste aufgewühlt trank er sein Ale aus, zahlte und verließ die Bar.
Zu Hause tigerte er ruhelos im Wohnzimmer auf und ab und mahnte sich immer wieder, doch endlich ins Bett zu gehen. Die Schmerzen in seiner Seite strahlten bis ins linke Bein hinunter, trotzdem hatte er kein Lust, sich hinzulegen. Er blieb vor seinem großen Bücherschrank stehen. Die meisten Bücher, die er besaß, handelten von Schottland, und ihm kam plötzlich der Gedanke, dass er über vieles, was darin stand, heute nur noch lachen würde. Er nahm eines heraus, das die wichtigsten Schlachten der Schotten beschrieb, und schlug das Inhaltsverzeichnis auf. Glencoe, Killiecrankie, Culloden, aber nichts über Sheriffmuir. Er stellte das Buch in den Schrank zurück und holte ein anderes heraus. Darin fand er einen kurzen Absatz über den Tag, an dem er beinahe gestorben wäre. Einer der Tage, an denen er beinahe gestorben wäre.
Dort hieß es, die linke Flanke jeder Armee sei von der rechten Flanke des Gegners in die Flucht geschlagen worden. Er stutzte, hatte er doch selbst in der linken Flanke der jakobitischen Armee gekämpft. »O verdammt«, murmelte er leise vor sich hin. Doch abgesehen von der Tatsache, dass Mar
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