Volk der Verbannten
»Warum bist du jetzt nicht an der Seite der Göttin, wenn du ihre Jüngerin bist?«
»Ich bin nicht ihre Jüngerin«, flüsterte Non’iama. »Ich gehöre ihrem … ihrem Gemahl, Herrn es Morales …«
»Du gehörst niemandem«, begann Miu.
Afa unterbrach sie. »Ayesha soll einen menschlichen Gemahl haben? Einen Mann ? Unsinn!«, zischte sie; ihr Flüstern klang beinahe hysterisch. »Ayesha würde nie … das Fleisch eines Mannes berühren, nie das Fleisch des …« Sie krümmte sich, als sei ihr jetzt ebenfalls schlecht, bevor sie Non’iama wieder anstarrte. »Wir müssen sie töten … sie töten!«, zischte sie. »Sie lügt … sie lügt …«
Und plötzlich stürzte sie sich mit ausgestreckten Armen auf Non’iama, um sie an der Kehle zu packen. Non’iama
keuchte erstaunt und wich mit einem Aufschrei zurück, um zu verhindern, dass Afas Finger sich um ihren Hals schlossen. Afa riss sie zu Boden, und Non’iama wehrte sich, kämpfte gegen diese Frau, die im Dunkeln noch bedrohlicher wirkte als eine Kreatur der Abgründe, und fragte sich einen Augenblick, ob wohl das Metall und das Gewicht der Ketten dafür sorgten, dass Menschen sich in Geschöpfe des Gottes verwandelten, dessen Namen man nicht nannte …
Dann wurde Afa von Berus und Miu zurückgerissen und wehrte sich ihrerseits, um ihnen zu entkommen.
»RUHE!«, brüllte Sî plötzlich mit erhobenem Kopf. Afa drehte sich mit hasserfüllt gebleckten Zähnen zu ihm um, und er versetzte ihr mit voller Wucht einen Schlag ins Gesicht. Die junge Frau erstarrte und stand einen Moment lang überrumpelt da, während der Sklave auf die Falltür deutete. »Sei still.«
Dort oben über ihren Köpfen zitterte das Holz. Die sechs Gefangenen erstarrten, während das Fußgetrappel ohrenbetäubend wurde, Zornesschreie ertönten und immer weitere Erschütterungen auf die Falltür einbrandeten. Bû warf sich verzweifelt wie ein Tier im Käfig gegen die Kellertür, diese verschlossene Tür, die sie hier zusammen in ihrem kleinen, privaten Abgrund gefangen hielt, und versuchte, sie mit kräftigen Schulterstößen einzudrücken. Er wimmerte leise, als flehe er die Götter oder den Felsen selbst um Hilfe an.
»Ruhe!«, wiederholte Sî, packte seinen Bruder am Arm und warf ihn zu Boden. »Sie haben uns noch nicht gefunden! Sie …«
Er brach ab, deutete nach oben, und sie verstanden alle.
Dort oben hatte sich die Falltür nicht geöffnet; die Wutschreie waren zu Schmerzenslauten geworden, in die sich hysterisches Weinen und angstvolles Wimmern mischten, während knappe Befehle ertönten, Männerstimmen und die Schritte schwerer Stiefel. Das Geschrei wurde zu einer blutigen Symphonie, und Non’iama glaubte in all dem Chaos und Schmerz noch die brüchige Stimme des kleinen Jungen zu hören, der irgendetwas schrie, vielleicht den Namen seiner Mutter … Dann brach sein Schrei abrupt ab, und Non’iama ließ sich an die Wand sinken und hielt sich die Ohren zu, um nichts mehr zu hören.
Als sie später - sehr viel später - die Hände wieder von den Ohren nahm, war oben wieder Ruhe eingekehrt. Aber der Wirtschaftstrakt war nicht leer. Dort waren noch immer Schritte, die Schritte der Männer in schweren Stiefeln und ihr Gelächter, das die Stille durchbrach.
»Was sollen wir nur tun?«, fragte Miu leise; sie war den Tränen nah. »Was …?«
Die Hintertür öffnete sich, und Manros erschien.
Das Licht seiner Fackel erhellte den Keller und tat nach all den Tagen im Dunkeln in den Augen weh. Als ihre Pupillen sich an die Helligkeit gewöhnt hatten, sah Non’iama einen dunkelhäutigen Mann mit funkelnden schwarzen Augen und einem kurzen Bart, der sich durch die Tür beugte.
»Da bin ich«, sagte er. »Los, schnell. Ich bin nicht über die Grenze gekommen … Sie lassen niemanden passieren.«
Die sechs Kellerinsassen standen wie erstarrt da und sahen ihn an.
»Los, kommt raus«, fuhr Manros keuchend fort.
»Schnell … Es sind Sarsen überall in der Stadt, sie richten ein wahres Blutbad an. Schnell, solange die Tunnel noch frei sind! Kommt … wacht auf!«
Aber die Sklaven rührten sich noch immer nicht. Non’iama begriff, warum. Die Veränderung war so plötzlich eingetreten, Manros’ Erscheinen so unerwartet gewesen, dass sie noch nicht recht daran glauben konnten.
Manros machte eine Bewegung mit seiner Fackel, und Non’iama bemerkte, wie abgehärmt sein Gesicht war. Er hatte eine frische Wunde an der Wange. »Ich habe nichts besorgen können«, sagte er
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