Volk der Verbannten
Reglosigkeit war krank, unwirklich. Manchmal schloss jemand die Augen, und es gab nur noch drei oder zwei Wölfe, die Non’iama anstarrten. Dann ertrank sie in einem grauen Ozean, schlief unruhig inmitten der Meute, zwischen Tieren mit nachtschwarzem Fell, die leise knurrten, sie auf einer Lichtung in immer enger werdenden Runden umkreisten, während sie unter einer
großen Eiche schlummerte und in der Ferne der Ozean rauschte und seine dunklen Wellen gegen die Schatten anbrandeten. Der Wind hinterließ auf ihrem schlafenden Gesicht einen Film aus Salz und Wasser; sie schlief weiter, die Tiere kamen näher, und ein Felsbrocken war ihr auf die Brust gestürzt, aber zumindest hatte sie den Geschmack salzigen Wassers auf den Lippen und hörte im Herzen den Lockruf des Eises …
Als sie aufwachte, konnte sie nicht mehr atmen. Die Angst und der Berg lasteten auf ihrer Lunge, und ihre Kehle war zugeschnürt, als läge ein Eisenring um ihren Hals.
Sie fühlte, wie sie von Krämpfen geschüttelt wurde; wieder hatte sie das Bedürfnis, sich zu übergeben, und hustete. Als sie den Hustenanfall endlich zu beherrschen vermochte, sah sie, dass die Wölfe wach geworden waren, allesamt, und sie anstarrten.
»Seht ihr? Sie ist krank«, sagte Afa mit einem Anflug von Freude in der Stimme.
»Wenn du sie anrührst, schreie ich«, wiederholte Miu und verlor dann die Fassung. »Lasst sie gefälligst in Frieden«, rief sie. »Im Namen Fîrs, was seid ihr? Menschen oder Hunde?«
»Wenn sie krank ist«, schnurrte Afa seltsam genüsslich, »wird sie leiden, einen langen Todeskampf durchmachen. Das könnten wir ihr ersparen. Denk doch nach, Miu. Hast du etwa noch viel Brot?«
»Ihr versteht nicht«, sagte Miu heftig, und irgendetwas an ihrem Ton erregte die Aufmerksamkeit der anderen. »Begreift ihr denn nicht, dass sie wichtiger ist als wir alle?«
Sie starrten Miu erstaunt an, und sie fuhr mit zitternder Stimme fort: »Fragt ihr euch denn nicht manchmal,
warum ? Warum der Himmel gebrannt hat und der Stern explodiert ist?«
»Wir sind jetzt frei«, sagte Sî mit gerunzelter Stirn.
Berus begann hysterisch zu lachen. »Frei? Frei? Das nennst du frei?«, fragte er und wies auf den Keller. »Nichts hat sich geändert. Wenn du glaubst …«
»Nein, nichts hat sich geändert«, zischte Miu erregt, und alle schwiegen. »Nichts hat sich für euch geändert, weil ihr die Ketten nicht an den Füßen, sondern in der Seele tragt. Seht euch doch an! Ihr seid drauf und dran, ein Kind aufzufressen, weil Panik und Angst euch das Herz umdrehen … Ja, nichts hat sich geändert, ihr seid immer noch Sklaven! Die Unfreiheit ist im Herzen begründet, nicht in den Ketten!«
Berus schrie auf und überraschte damit alle. »Nicht in den Ketten? Nicht in den Ketten? Behalt deine wirren Predigten für dich, Miu! Du …«
»Ihr seid doch verrückt! Hört auf zu schreien!«, sagte Sî und sprang seinerseits auf.
»Ihr seid noch in Ketten, weil ihr in Fesseln aufgewachsen seid«, rief Miu, die mittlerweile fast genauso laut wie Berus schrie. »Mit uns ist es vorbei, vorbei , aber mit ihr« - sie deutete auf Non’iama - »ist es anders. Sie und alle Kinder wie sie können unter einem freien Himmel aufwachsen … Versteht ihr? Sie muss überleben, weil …«
»Ich bin ja dafür, dass wir sie sofort aufessen«, sagte Afa und rückte mit funkelndem Blick näher an Non’iama heran.
Sie stieß Miu beiseite, und Miu wankte; die anderen sahen ihr Zögern. Dank einer einzigen Bewegung hatten sich die Machtverhältnisse verändert. Bis dahin war es Miu gelungen, das Rudel in Schach zu halten, aber die
andere Wölfin, das junge Weibchen, hatte gerade seine Kraft unter Beweis gestellt und würde die anderen mitreißen.
»Ayesha beschützt mich!«, schrie Non’iama mit klarer Stimme. »Rührt mich nicht an. Ayesha beschützt mich! «
»Nicht so laut!«, rief Sî; er schrie nun selbst beinahe. »Seid ihr denn alle verrückt geworden?«
»Ayesha beschützt mich«, wiederholte Non’iama stur und starrte die Kellerbewohner einen nach dem anderen an. »Ich habe sie gesehen. Ich war da, ich war an ihrer Seite, als sie den Arm gehoben hat. Ich habe den blauen Blitz gesehen, als die Rune der Knechtschaft verschwunden ist.«
»Das haben wir alle gesehen«, sagte Berus.
»Aber ich habe sie gesehen«, beharrte Non’iama. »Ich bin wochenlang an ihrer Seite gewesen. Sie kennt meinen Namen und hat mich angelächelt.«
»Sie lügt«, sagte Afa mit gerunzelter Stirn.
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