Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Volk der Verbannten

Titel: Volk der Verbannten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ange Guéro
Vom Netzwerk:
blauen Kinder des Chaos. Kurz und gut: aufständische Sklaven. Der Begriff war neu, er war erst am Tag nach dem Großen Opfer entstanden. Ein Priester hatte ihn irgendwo geprägt, und die Bezeichnung hatte sich verbreitet.
    Mindestens achthundert Ayhâssi.
    Und jeden Tag stießen weitere zu ihnen.
    Die zwei Lager waren östlich der Gipfel an der Bergflanke aufgeschlagen worden. Sie lagen, wie Marikani nicht ohne Ironie dachte, auf der »richtigen« Seite, in
dem Teil der Königreiche, der noch vor der Welle aus Chaos und Tod geschützt war, die den Westen in ein einziges Massengrab verwandelt hatte. Weiter östlich lagen vertraute Landstriche: das Emirat, die Fürstentümer von Reynes, die Freien Städte und unten im Süden Harabec. Ihr Land, in dem sie jeden Hügel und jedes Feld kannte.
    Es war seltsam zu wissen, dass die Völker hier noch in relativer Sicherheit lebten, dass Familien hier noch ein Dach über dem Kopf hatten. Natürlich verbreiteten die Gerüchte über den Krieg bereits Furcht und Schrecken, zahlreiche Handelsrouten waren unterbrochen worden, und eine Krise drohte; natürlich gingen Armeen in Stellung, und die Könige und Ratsversammlungen gerieten angesichts des Gedankens in Panik, welche Bedrohung da im Westen wuchs. Aber noch war es nur eine Bedrohung, nicht Wirklichkeit. Vielleicht würde der Krieg die Berge nicht überschreiten. Vielleicht würden die »Kreaturen der Abgründe« und ihre Armeen sich mit der Hälfte der zivilisierten Welt begnügen und die anderen Länder in Frieden lassen.
    Marikani bezweifelte das. Sie hob den Blick und sah nach Osten. Sie konnte nichts erkennen, nur den Wald, aber es war nicht schwer, sich jenseits der Blätter Männer vorzustellen, die sie gut kannte - Harrakin, die Ratsherren von Reynes, den Emir -, wie sie mit ihren Armeeführern sprachen, Karten, Reisewege und Verteidigungsstellungen studierten.
    Auch sie zweifelten gewiss daran, dass der Krieg die Berge nicht überschreiten würde.
    Einen Moment lang sah sie so deutlich, als befände sie sich dort, das Herbstschreibzimmer im Palast von Harabec. Die Holzschnitzereien, den Hof mit seinem Kies und
seinen eleganten Säulengängen, den man durch die Glastüren sah, den langen Holztisch, an dem sie oft bis spät in die Nacht gesessen hatte, um mit Banh, ihrem Berater, über Handelsverträge und den Schutz der Straßen zu sprechen. Harrakin, ihr Mann - ihr Mann? Ja, ihr Mann, sie waren jung verheiratet, die Zeremonie hatte erst vor zehn Monaten stattgefunden, obwohl diese zehn Monate so schwer wie eine Ewigkeit zu wiegen schienen - Harrakin also saß in diesem Moment sicher mit gerunzelter Stirn im Schreibzimmer und las die Berichte seiner Spione, sandte Nachrichten nach Reynes und schloss Bündnisse.
    Harrakin war alles andere als ein Dummkopf. Er begriff sicher die Gefahr und wusste, dass im Vergleich zu den Kräften, die heute wirkten, Harabec, seine winzige Armee, seine Geschichte und seine Götter nebensächlich waren. Er wusste, dass vielleicht - vielleicht , wenn er falsche Entscheidungen traf - das Land, über das seine Vorfahren seit mehr als fünftausend Jahren geherrscht hatten, vom Sturm hinweggefegt werden würde, um bald nur noch ein Name in verkohlten Urkunden zu sein.
    Marikanis Herz zog sich plötzlich bei dem Gedanken an ihren Ehemann im Herbstschreibzimmer schmerzlich zusammen, und sie glaubte, den Geruch des Firnisses auf dem Holz der Wände riechen zu können, auch das alte Leder der Stühle und die Duftkerzen, die nach Niis rochen; der Palast kaufte sie jedes Frühjahr zu Tausenden. Schmerzlich durchzuckte sie die Erinnerung an sternklare Nächte in Harabec, in denen die Höflinge lächelnd auf Marmor tanzten; sie glaubte, ihre melodischen, kultivierten Stimmen zu hören, die über Politik, Poesie, Liebschaften und Intrigen sprachen, all das mit dieser
geheuchelten Lässigkeit, die den Adligen des Südens von Geburt an zu eigen zu sein schien … Nostalgische Sehnsucht traf sie wie ein Axthieb.
    »Sie haben Hunger«, sagte eine Stimme hinter ihr.
    Es war Halian, ihr Adjutant. Er deutete auf ein Zelt. Die raue Plane hing in den Schlamm, und das hastig zusammengetragene Reisig schützte es kaum vor der Feuchtigkeit des Bodens. Nahe beim Zelteingang hockte ein junges Mädchen von vierzehn oder fünfzehn Jahren, an das sich ein kleiner Bruder schmiegte; beide waren sehr blass. Hinter ihnen war schemenhaft eine Frau zu erkennen, die ihr Kind stillte.
    Das Lager erwachte zum Leben; das Licht

Weitere Kostenlose Bücher