Volksfest
Und dann konnte Suchanek ihn sehen, wie er hinter der Mauer hervorkam.
Ein Zug. Da kam ein Zug aus Bernhardsau! Eine alte Dampflok, die einen grünen Waggon zog.
«Wieso fährt da ein Zug?», fragte er Grasel entgeistert.
Grasel fand das ganz normal. Aber der war ja für Normalität nie eine wirklich verlässliche Instanz. «Das sind die Bernhardsauer Schienenfreunde. Sonst steht die alte Lok am Bahnhof, beim Heimatmuseum. Aber ab und zu fahren sie eine Runde hinauf nach Egelsee und wieder zurück.»
Suchanek verfolgte fassungslos, wie das zischende und schmatzende Gerät die Haindorfer Straße überquerte und dann gleich neben der Kläranlage an ihnen vorüberfuhr. In dem grünen Salonwagen saßen ganz viele Schienenfreunde, in der Mehrzahl ansonsten ganz gesund wirkende ältere Herrschaften, die ein wenig komisch schauten, weil da zwei von diesen ulkigen Wulzendorfern auf einer Brücke hinter einer Mauer kauerten. Ein paar winkten sogar.
«Dass sie natürlich gerade heute fahren … Wollten wahrscheinlich dem Volksfest ein bisschen die Show stehlen. Gegen so eine aufregende Dampflok schaut ein schlichter Dreifachmord natürlich ganz schön alt aus.»
Suchanek riss sich von der unangenehmen Erscheinung los und sagte: «Also … ich bin dafür, wir gehen zurück ins Route. Das bringt doch nichts hier.»
«Jetzt komm schon! Wenn wir nur einmal so vorbeistreunen, warum sollten sie da gleich Verdacht schöpfen?»
«Wenn ich Dreck am Stecken hätte, würde ich Verdacht schöpfen. Weil, ausgerechnet bei der stinkenden Kläranlage werden wir einen Sonntagsspaziergang machen?»
«Anläuten würdest du, aber einfach vorbeigehen nicht? Mann, Suchanek!»
Und nach diesem sachlich ja nicht ungerechtfertigten Einwand machte sich Grasel ohne weitere Vorwarnung im Entengang auf den Weg.
«Bleib hier! Grasel! Ich will nicht! Ach, Mist!»
Suchanek schlich ihm also nach. Und sofort als er aus dem schützenden Mauerschatten gewatschelt war, besprang ihn die Erkenntnis, dass sich das Nobelpreiskomitee niemals mit dieser Idee würde befassen müssen.
Man musste ja nicht einmal Suchanek sein, also quasi durch und durch mit Optimismus marmoriert, um nach einem nächtlichen Mordanschlag, wie er ihn erlebt hatte, in der Folge nicht sowieso jede weitere Sekunde mit einem unnatürlichen Ableben zu rechnen. Dass es allerdings so passieren musste!
Die doppelläufige Schrotflinte war ja vor allem deshalb eine so geniale Waffe, weil mit ihr selbst der größte Depp nicht danebenschießen konnte. Insofern war sie kriegstechnologisch ganz klar über Kurzstreckenraketen oder Atom-U-Boote zu stellen. Und was für eine glückliche Fügung des Schicksals, dass am anderen Ende des Doppellaufs, der Suchanek böse anschaute, auch wirklich der größte Depp stand.
«Du also auch ein Jäger?», fragte Suchanek.
Daran merkte man schon: Er hatte die kurze Phase des sich gegenseitig bewegungslos Anschweigens wenigstens zum messerscharfen Kombinieren genützt, während sie sein Gegenüber hatte ungenützt verstreichen lassen.
Okay, zugegeben. Das war eine mäßig originelle Frage. Weil erstens: was sonst? Und zweitens: Gerade einer wie der Keller Gerry sollte sich die Chance entgehen lassen, gesellschaftlich völlig akzeptiert in fremdem Blut baden zu dürfen? Auch wenn es – meistens – nur von Tieren war?
«Hallo, Gerry», sagte Grasel verbindlich und richtete sich unauffällig auf. «Schon was gefunden?»
Warum um alles in der Welt waren sie eigentlich unbewaffnet auf diese Patrouille gegangen? Wenn sie sich schon keine Schusswaffen organisiert hatten, wie sonst offenbar jeder hier – was war eigentlich aus den guten alten Heugabeln, Sensen und Sicheln geworden?
«Nei-ein», gluckste Keller. Er war sichtlich nervös. «Nichts gefunden. Gar nichts.» Sein Blick wanderte hektisch zwischen Grasel und Suchanek hin und her. «Was macht ihr hier?»
Grasel zuckte mit den Schultern. «Wir? Ach, nichts. Gehen nur ein bisschen herum.»
«Kleiner Sonntagsspaziergang bei der Kläranlage», ergänzte Suchanek und fand anschließend, dass diese herzerfrischende Aussage Grund genug war, im Weiteren auch gleich wieder den Mund zu halten.
«Ihr seid aber geschlichen. Und vorher habt ihr euch versteckt. Ich hab euch beobachtet, seit der Zug vorbeigefahren ist. Wieso versteckt ihr euch?»
«Wir … also … Nein. Wir sind da nur ein bisschen im Schatten gesessen.»
«Im Schatten. Ausgerechnet hier? Wo es stinkt wie die Sau?»
Gerry hielt das Gewehr
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