Volle Drehzahl: Mit Haltung an die Spitze (German Edition)
Doch die Grenzsoldaten am Strand ließen die von Hunger und Durst gezeichneten Menschen einfach in der prallen Mittagssonne im Wasser stehen. Erst kurz vor Sonnenuntergang, als alle schon völlig entkräftet waren, durften sie an Land. Dann brachte man sie in ein Lager, zusammengepfercht mit anderen Flüchtlingen, ohne ausreichende Nahrung und Hygiene. Als die damals elfjährige Tochter in ihrer Verzweiflung in einem benachbarten Garten versuchte, Süßkartoffeln auszugraben, und dabei von den Wachen erwischt wurde, musste sie zur Strafe 100 Kniebeugen machen. Das unvorstellbare Leid dieser Menschen hörte auch hier, in der sogenannten Freiheit nicht auf. Nach etwa zwei Monaten auf dieser malaysischen Insel mussten sie zurück aufs Wasser. Verteilt auf insgesamt sechs kleine Boote schleppte man sie zurück aufs offene Meer, ohne ausreichende Wasser- und Treibstoffvorräte. Als sie weit genug vom Land entfernt waren, kappten die Soldaten im großen Boot die Leinen und drehten ab. Vier oder fünf dieser kleinen Boote ereilte das Schicksal, das die überforderten Behörden Malaysias wohl so erwartet hatten: Sie kenterten in den heftigen Stürmen, wie sie im Juni und Juli gefürchtet sind und die selbst erfahrene Fischer an Land bleiben lassen. Diese armen Menschen ertranken, als ihre Nussschalen von den hohen Wellen verschluckt wurden. Der Rest der Gruppe trieb weiter hilflos irgendwohin. Mit viel Glück und einem unbändigen Glauben an eine bessere Zukunft irgendwo auf dieser Welt, am besten in Amerika, schaffte es die Familie von Herrn Ho, die Stürme zu überstehen. In ihrem Tagebuch erinnert sichdie Tochter, dass die jungen Männer in ihrem Boot unablässig das eindringende Wasser mit kleinen Eimern schöpften. Bereits zwei Tage waren sie ohne Treibstoff in einem kaputten Boot auf offener See umhergetrieben. Die Hoffnung auf Rettung hatten sie jedoch nicht aufgegeben und unablässig laut gebetet. Ihre Gebete wurden erhört, denn sie entdeckten ein großes Schiff am Horizont. Es schien das kleine Boot mit Flüchtlingen nicht bemerkt zu haben, auf die Schreie und Rufe der Vietnamesen kam keine Antwort und das SOS-Zeichen auf ihrer Flagge erregte auch keine Aufmerksamkeit. Doch wie sollten sie zu dem Schiff kommen? Ihr Boot war schon lange manövrierunfähig, von Wind und Sturm getrieben. Dieses Schiff da, die mögliche Rettung, umkreiste sie mehrmals. Die Besatzung dieses Handelsschiffes allerdings zeigte sich mit dieser unerwarteten Situation überfordert. Die Flüchtlinge überlegten, ob sie mit ihren Händen paddeln könnten, um das Boot irgendwie in Bewegung zu bringen, als einer der jungen Männer plötzlich über Bord sprang, ungeachtet der Haie, die hier nichts Besonderes waren und die schon seit Tagen um das Boot herumschwammen. Der Junge schaffte es wie durch ein Wunder bis zu dem großen Schiff und wurde völlig entkräftet an Bord geholt. Es war ein internationales Handelsschiff, das Stahlrohre geladen hatte. Es gelang dem Flüchtlingsjungen nicht sofort, dem deutschen Kapitän die Situation zu schildern, und dieser ließ die Flüchtlinge warten. Erst als der nächste Sturm aufzog, erkannte die Besatzung die Gefahr, in der sich die geschwächten Menschen befanden. In dieser Nacht ihrer Rettung wurde ein Baby geboren, ein Flüchtlingskind in Sicherheit, aber noch lange nicht zu Hause.
Nach einer Woche an Bord warteten wieder die Behörden Malaysias auf sie. Nach Befragungen, Untersuchungenund Impfungen erhielten sie in Kuala Lumpur schließlich Papiere. Das Internationale Rote Kreuz sorgte dieses Mal für ein gutes Ende, nur ihr Traumziel Amerika sollten sie nicht erreichen. Nach Monaten einer abenteuerlichen Odyssee landete die Familie schließlich in einem Flüchtlingssammellager in Pforzheim. Insgesamt waren es 41 Menschen, die als erste vietnamesische Gruppe von Baden-Württemberg aufgenommen wurde. Ein halbes Jahr lebte die Familie Ho in diesem Lager, in einem Zimmer für acht Personen. Bad und Toilette mussten mit den anderen Bewohnern geteilt werden.
Ich war oft dort, um zu helfen. Einmal strich ich die Fassade, ein anderes Mal die Fenster. Nach diesem halben Jahr im Lager bekam Familie Ho mithilfe einer Patenfamilie die erste eigene Wohnung. Mir imponierte damals, wie Herr Ho hier in der Fremde einen Neuanfang machte. Wie er einen Sprachkurs belegte, wie er als Tellerwäscher arbeitete, als Fensterputzer anheuerte, danach Lastwagen fuhr; wie er es wieder schaffte, seine Familie zu ernähren.
Weitere Kostenlose Bücher