Volle Drehzahl: Mit Haltung an die Spitze (German Edition)
schnell und unkompliziert geholfen wurde – unabhängig von der Herkunft und der Nationalität. Es dauerte nicht lange und ich bekam Kontakt zu den Vietnamesen. Viele von ihnen wohnten in einfachsten Verhältnissen und vieles erinnerte mich an meine Zeit im Heim. Ich konnte nachempfinden, wie diese Menschen sich fühlten. Ich wusste nur zu gut, was soziale Kälte bedeutete. Ich begann, Geld, Möbel und Lebensmittel zu organisieren. Sherwood Forest war überall, auch in Pforzheim.
Bei meinen regelmäßigen Besuchen fiel mir Herr Ho auf,ein Mann, aus dessen Erzählungen ich schließen konnte, dass er es schon zu Hause in Vietnam zu etwas gebracht hatte. Man könnte sagen, er war ein Unternehmer gewesen. Als Kind im zerbombten Vietnam hatte er sich lange durch den Verkauf von Gebäck, das seine Mutter herstellte, über Wasser gehalten. Als junger Mann reichte es zu einem kleinen Laden, bevor er sich später einen Kleinlastwagen leisten konnte: ein Transporter mit drei Rädern, vergleichbar mit dem Goliath GD 750, den man bei uns in den fünfziger Jahren häufig sehen konnte. Mit 26 Jahren heiratete Herr Ho seine Frau, die auf ein nicht weniger bewegtes Leben zurückblickte. Als achtjähriges Mädchen war sie aus China nach Vietnam verkauft worden. Der Zweite Weltkrieg tobte auch in Asien und sie musste sich als Dienstmädchen durchschlagen, alleine und ohne Familie. Eine Schule hatte sie nie besucht, sie ist heute noch Analphabetin. Ihren Mann lernte sie als Dienstmädchen in einer reichen Familie kennen – den Mann, der ihr 40 Jahre später helfen würde, ihre Familie in Kanton wiederzufinden. Herr Ho wurde Spediteur in der Nähe von Saigon. Das Geld reichte, um eine Familie zu gründen und zu ernähren, was im Vietnam der Nachkriegszeit schon als große Leistung galt. Manchmal reichte es sogar, um Rücklagen zu bilden. Die Zeiten aber änderten sich und privates Unternehmertum im neuen Vietnam stieß bald auf breites Misstrauen. Unter der kommunistischen Regierung war Privatbesitz verpönt, geächtet als ein Zeichen der überwunden geglaubten Ära des Kapitalismus. Außerdem zählte Herr Ho zu den Menschen, die nicht bereit waren, Unrecht unwidersprochen hinzunehmen. Schon als Gewerkschafter war er häufig angeeckt, weil er seinen Mund nicht halten wollte. Seine kritischen Worte gegen den Kommunismus brachten ihn jetzt oft in Gefahr, außerdem hatte er monatelangDeserteure versteckt, die aus der kommunistischen Armee oder Umerziehungslagern geflohen waren. Dabei fand Herr Ho das System gar nicht so schlecht, denn endlich wurde der Korruption, die überall in diesem Land grassierte, Einhalt geboten. Dass aber der Kommunismus dem Individuum nicht genug Freiheit ließ und die persönlichen Rechte immer weiter eingeschränkt wurden, missfiel dem Familienvater, und er machte keinen Hehl aus seiner Geringschätzung der neuen Machthaber. Er legte sich mit der Obrigkeit an und machte sich Feinde.
Herr Ho, damals noch keine 40 Jahre alt, zog die Flucht dem Umerziehungslager vor, auch wenn er damit seinen gesamten Besitz verlieren sollte. Die vietnamesischen Behörden gestatteten einer bestimmten Anzahl von Angehörigen der chinesischen Minderheiten eine geregelte Ausreise, wenn sie bereit waren, sich mit Gold freizukaufen. Herr Ho hatte etwas Gold, als er vor der neuen Ausreiseregelung erfuhr. Aber es musste schnell gehen und es blieb nicht viel Zeit, um zu packen. Das Boot, das seine Familie außer Landes bringen sollte, erwies sich schon nach ein paar Stunden als seeuntüchtig und sie mussten umkehren. Nach ein paar Tagen im Trockenen gelang ihnen schließlich der zweite Versuch, außer Landes zu kommen. Doch auch dieses Mal verlief nicht alles reibungslos. Der Kompass funktionierte nicht und aus den kalkulierten zwei bis drei Tagen auf See wurde fast eine Woche unter lebensgefährlichen Bedingungen. Ohne Wasser und Treibstoff trieb die Familie hilflos durch das chinesische Meer, als sie eines Tages Land in Sicht hatte. Sie strandete auf einer zu Malaysia gehörenden Insel, ohne sich gerettet fühlen zu dürfen. Die Behörden, die es zu dieser Zeit mit einem Heer an Flüchtlingen zu tun hatten, ließen die boat people nicht ohne Weiteres an Land. In seiner Verzweiflungzerstörte der Kapitän mithilfe einiger junger Männer das eigene Boot, um bloß nicht wieder zurückgeschickt zu werden. Da standen sie im seichten Wasser, umspült von den Trümmern ihrer kläglichen Flucht, und versuchten, ihre Aufnahme zu erpressen.
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