Volle Drehzahl: Mit Haltung an die Spitze (German Edition)
nicht länger über ihre Verhältnisse leben durften. Der Staat konnte nur ausgeben, was vorher eingenommen wurde, doch Deutschland hatte sich ans Schuldenmachen gewöhnt. Das Wahlprogramm der SPD rückte aber nicht nur die Notwendigkeit der Reformen des Sozialstaats in den Mittelpunkt, im Gegensatz zu den anderen Parteien fand ich hier auch Begriffe wie Tarifautonomie und Mitbestimmung wieder, meine Themen! Die FDP und ihr Neoliberalismus warfen sich unverhohlen in die Arme des Finanzkapitalismus, als würden die Börsen zukunftsfähige Arbeitsplätze gestalten. Aktionärskapitalismusund Shareholder Value, in dem Menschen nur Kostenfaktoren sind, hatten die Liberalen vor ihren Karren gespannt. Mich empörte geradezu, wie diese Partei, der die Errungenschaften des Sozialstaats mehr Hindernis als Verpflichtung waren, in den letzten Umfragen im August 2005 bei 10 Prozent der Wählerstimmen lag. Guidomobil, sinnleere Phrasen, Politik als Popkultur, Anbiederung an Jungwähler – einen oberflächlicheren Wahlkampf hatte ich in Deutschland noch nicht erlebt! Die notwendigen Reformen der Sozialversicherungssysteme ließ die FDP in ihrem Wahlprogramm aus – es war kein Thema, mit dem sie punkten konnte.
Gerhard Schröder war ein ehrlicher Kanzler und deshalb betrachtete ich es als eine Ehre, 2005 für ihn zu kämpfen. Zunächst waren es die lokalen Wahlkampftermine in Bayern und Baden-Württemberg, bei denen ich auftrat. Meine hemdsärmelige, offene und emotionale Art kam gut an. Mein neuer Freund Gerhard und seine Strategen hatten sehr bald festgestellt, dass der Saal kochte, wenn ich erst mal hinlangte. Von meinem Vorbild Herbert Wehner hatte ich gelernt, meine Stimme wie eine Waffe einzusetzen. Für Schröder, den Star jedes Wahlkampfauftritts, erwies es sich als angenehmer, in eine vorgewärmte Atmosphäre zu kommen, also wurde ich als sein Vorredner bestimmt.
Am 31. August, es waren keine drei Wochen mehr bis zur Bundestagswahl, kam mein Auftritt beim Sonderparteitag in Berlin. Diese Sonderparteitage werden normalerweise immer veranstaltet, wenn Köpfe rollen sollen, wie mir Sigmar Gabriel erst sieben Jahre später in der Festrede anlässlich meines 50. Geburtstags mit feierlicher Ironie mitteilte. Tatsächlich aber befand sich die SPD 2005 in einer Lethargie, die mich erschreckte. Ich war am Nachmittag an der Reihe und alles, was ich bis dahin an Redebeiträgen verfolgt hatte, bestärktemich in meiner Meinung: Diese Partei brauchte einen lauten Weckruf und zwar dringend. In meiner Einschätzung der Wahlkampfstrategie hatte ich gehofft, die Partei setze auf eine Polarisierung, auf Attacken gegen die CDU, auf Angela Merkel und diesen an Opportunismus nicht mehr zu überbietenden Guido Westerwelle. Doch dieser Parteitag bestätigte mal wieder mein Bild von der SPD als Kanzlei: zu viele Anwälte, zu wenig Arbeiter. Ich ging auf die Bühne und war bereit, jedem Delegierten und Gast in diesem riesigen Saal eines Berliner Hotels zu beweisen, warum man mich in meiner schwäbischen Heimat auch die »Schwertgosch« nennt. Ich brauchte acht bis zehn Sätze, um mich an das Scheinwerferlicht und die neue Perspektive aus meiner erhöhten Rednerposition zu gewöhnen, dann legte ich los. »Wer den Sozialstaat infrage stellt, der stellt die Demokratie infrage«, schrie ich. Meine Gesichtsfarbe und Stimmlage gerieten in den roten Bereich. Volle Drehzahl, der Saal geriet in Bewegung. Ich wechselte das Thema und dankte dem Bundeskanzler für seine Haltung im Irak-Krieg: »Wenn die anderen an der Regierung gewesen wären, wären jede Woche Särge mit deutschen Soldaten zurückgekommen!« Tosender Beifall, ein Seitenblick auf das Präsidium, ich sah Müntefering nicken, der Kanzler schickte einen zustimmenden Blick zu mir hoch. Mein Vorteil gegenüber den Berufspolitikern war meine Position auf diesem Parteitag. Ich konnte es mir leisten, direkter und manchmal sogar polemischer zu sein. Ich war auf Kurs und ich bereicherte meine Rede, die von den meisten Delegierten später als fulminant bezeichnet wurde, mit einer Pointe. Es war der Spruch, der am nächsten Tag in fast allen großen Zeitungen zitiert wurde und mit dem ich es sogar zu Stefan Raabs TV Total brachte. Mich störten diese permanent schlechten Umfragewerte für die SPD, dietäglich lanciert wurden und auch hier auf dem Sonderparteitag schon spürbar für Mutlosigkeit bei vielen Delegierten sorgten. »Liebe Genossinnen und Genossen, da wir jetzt einen deutschen Papst haben,
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