Volle Drehzahl: Mit Haltung an die Spitze (German Edition)
ihm damals so gut gefallen haben, dass er länger blieb, als es die Agenda vorsah. Um 16:52 Uhr sollte er nach Aachen auf brechen, um dort EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso zu treffen. Er blieb fast eine ganze Stunde länger und ich nutzte diese Extrazeit. Das »Du« hatte er mir schon zu Beginn unserer Veranstaltung angeboten – vielleicht ahnte er die Gefahr, dass ich ihm das Du sowieso bald angeboten hätte. Jetzt, kurz vor seinem Abschied, nahm ich den Bundeskanzler zur Seite. »Gerhard, solltest du mich im Wahlkampf brauchen – ich bin bereit!« Ein kurzer Satz, ein Händedruck zum Abschied, ich stand im Wahlkampfteam 2005, Genosse Hück ging auf Tour. Ich mochte Gerhard Schröder schon lange, bevor ich ihn persönlich kennenlernte. Ich hatte immer ein Faible für Menschen, die bereit waren zu kämpfen und Schröder war ein großer Kämpfer. Anders als seine spätere Herausforderin Angela Merkel, die in meinen Augen zu wenig eigenes Profil besaß und nur allzu gerne den Kopf drehte, um zu spüren, woher der Wind wehte. Schröder ging den harten Weg, er verzichtete auf frisierte Statistiken und geschönte Bilanzen. Deutschland würde schmerzhafte Einschnitte machen müssen und der Kanzler schreckte nicht vor düsteren Prognosen zurück. Realistische Einschätzung der Zukunft statt weichgezeichneter Deutschlandidylle, kantige, aber ehrliche Wortestatt Schönrednerei. Sein als »Kanzler der Einheit« von vielen Bürgern verklärter Vorgänger Helmut Kohl, der das Bild der blühenden Landschaften malte und dabei schon tief im Morast steckte, hatte das Zusammenwachsen von Ost und West falsch finanziert. Die Einheit hätte auf anderen Säulen stehen und solider finanziert werden müssen, doch dieses Thema schien im letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrtausends auf dem Index öffentlicher Diskussionen zu stehen. Die hehren Ideale der deutschen Einheit, die ich bis heute teile, standen im Vordergrund, nicht die Frage, wie das alles überhaupt zu finanzieren sein soll. Und es sollte schnell gehen, zu schnell. Der Staat betrieb eine systematische Neuverschuldung, das Haushaltsdefizit, das 1989 noch bei 28 Milliarden gelegen hatte, betrug 1993 bereits 154 Milliarden Euro. Mit diesen Altlasten wurde Gerhard Schröder konfrontiert, als er 1998 zum Bundeskanzler gewählt wurde. Der dritte Kanzler der SPD nach Brandt und Schmidt trat ein schwieriges Erbe an. Mir hat immer imponiert, wie er bedingungslos für seine unpopulären Ideen eingestanden hat, wie er gekämpft hat für seine Agenda 2010 und notfalls auch bereit war, im Falle eines Scheiterns zurückzutreten. Schröder wusste, dass wir ans Eingemachte gehen mussten, um den Staat weiter finanzieren zu können.
Viele meiner Freunde in den Gewerkschaften und vor allem die Linken in der SPD beklagten dagegen einen Sozialabbau. Mit Hartz I begann die umstrittene Reform des Arbeitsmarktes. Ich glaubte damals an den Erfolg dieses Pakets, auch wenn es für viele schmerzhafte Einschnitte bedeutete, doch ich geriet immer häufiger zwischen alle Stühle. Auf der einen Seite war ich seit über 20 Jahren stolzer Sozialdemokrat, auf der anderen aber auch engagierter und überzeugter Gewerkschafter. Aus dem Lager der IG Metallwurde die Kritik an Schröders Kurs lauter und mir gefiel dieser Schlingerkurs nicht. Da forderte die Gewerkschaft ein Arbeitnehmerbegehren und sammelte Unterschriften gegen die Arbeitsmarktreformen, stimmte aber andererseits einer Verlängerung der Arbeitszeit ohne Lohnausgleich bei Siemens zu. Die IG Metall bekam auf ihrem Kurs bald Unterstützung aus dem Saarland. Oskar Lafontaine nutzte die Debatte zu seiner gewohnt populistischen Selbstinszenierung und torpedierte die Reformpolitik als Kahlschlag des Sozialstaates. Vorsorglich entwarf er schon mal das Szenario einer neuen Partei, die ihre Klientel aus dem linken Lager der SPD rekrutieren würde. Kein Wort davon, dass Schröder das Arbeitnehmerentsendegesetz auf alle Branchen ausweiten wollte und für einen gesetzlichen Mindestlohn in den Bereichen eintrat, in denen es keine Tarifstruktur gab. Kein Wort vom Kampf gegen die Billiglohnkonkurrenz aus dem Ausland, stattdessen immer wieder dieses destruktive Argument vom sozialen Kahlschlag. Schröders Politik setzte auf die Vernunft der Bürger, doch wer war zu dieser Zeit schon bereit, aus der sozialen Hängematte aufzustehen und auf gewohnte Sozialleistungen zu verzichten? Schröder hatte gehofft, den Menschen klarmachen zu können, dass sie
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