Vollendet - Der Aufstand (German Edition)
wolltest?«
Miracolina muss bei der Erinnerung lächeln. Sie hatte versucht, sich in Neros Badewanne zu verstecken – dieser riesigen kastanienbraunen Steinschüssel, die groß genug für einen Elefanten ist. »Der Sicherheitsmann wäre fast ausgeflippt! Ich dachte, die bringen mich zum Papst und er wird mir den Hintern versohlen. Da bin ich weggerannt.«
Matteo lacht. »Eine geschlagene Stunde warst du verschwunden – Mom und Dad waren schon am Verzweifeln.«
Verschwunden ist allerdings nicht das richtige Wort. In einem Museum verschwindet man nicht einfach, man wird nur vorübergehend von den Räumen aufgesogen. Sie weiß noch, dass sie sich mit den vielen Menschen durch den Vatikan schob, bis sie sich mitten in der Sixtinischen Kapelle wiederfand und Michelangelos Meisterwerk an Wänden und Decke bestaunte. Und dort, mittendrin, war sie, die göttliche Verbindung zwischen Himmel und Erde. Adams Finger waren so nah am Zeigefinger Gottes, beide reckten sich, doch die Schwerkraft war stärker.
Miracolina stand da, den Blick zur Decke gerichtet, und vergaß, dass sie sich hatte verstecken wollen. Wie hätte sie das auch tun können angesichts dieser Offenbarung eines Mysteriums? Und genau dort fand ihre Familie sie, unter Hunderten von Touristen, die das großartigste Kunstwerk bewunderten, das je von Menschenhand geschaffen worden war – die äußerste Annäherung der Menschheit an die Perfektion.
Obwohl sie erst sechs war, sprachen die Bilder in der Kapelle sie schon damals an. Sie hatte keine Ahnung, was sie ihr genau zu sagen hatten, doch sie wusste, dass sie, Miracolina, war wie dieser wundervolle Ort: Wenn jemand in sie hineinsehen könnte, würde er an den Wänden ihrer Seele wundervolle Fresken erblicken.
Der Kleinbus kommt zehn Minuten zu früh und wartet vor dem Haus.
Auf der Seite trägt er einen bunten Schriftzug: Wood Hollow Ernte-Camp! Das Camp für Teenager!
Miracolina geht in ihr Zimmer, um ihr Gepäck zu holen, einen kleinen Koffer, in dem sich nur ein paar Garnituren weißer Zehntopferkleidung und wenige Gebrauchsartikel befinden. Ihre Eltern weinen und weinen, flehen sie an, ihnen zu vergeben. Mittlerweile ärgert sie das nur noch.
»Wenn ihr ein schlechtes Gewissen habt wegen meines Zehntopfergangs, ist das nicht mein Problem«, beschwert sie sich. »Ich bin im Reinen damit. Seht das doch ein.«
Es hilft nichts, sie weinen sich weiter die Augen aus.
»Du bist im Reinen damit«, schluchzt ihr Vater, »weil dir das so beigebracht wurde. Es ist unsere Schuld. Es ist alles unsere Schuld.«
Miracolina sieht von ihrem Vater zu ihrer Mutter und zuckt mit den Schultern. »Dann überlegt es euch halt anders«, sagt sie. »Brecht euren Vertrag mit Gott und opfert mich nicht.«
Die beiden sehen sie an, als hätte sie ihnen soeben ein herrliches Geschenk gemacht und sie vor der Hölle gerettet. Sogar Matteo scheint Hoffnung zu schöpfen.
»Genau, das machen wir!«, sagt ihre Mutter. »Wir haben die Verfügung ja noch nicht unterschrieben. Wir können es uns immer noch anders überlegen!«
»Gut«, sagt Miracolina. »Seid ihr sicher, dass ihr das wollt?«
»Ja.« Ihrem Vater fällt offenbar ein Stein vom Herzen. »Ja, wir sind sicher.«
»Absolut?«
»Ja!«
»Gut, dann braucht ihr kein schlechtes Gewissen mehr zu haben.« Miracolina nimmt ihren Koffer. »Aber egal, was ihr macht, ich gehe trotzdem. Das ist meine Entscheidung.«
Dann umarmt sie ihre Mutter, ihren Vater und ihren Bruder und geht aus dem Zimmer, ohne sich noch einmal umzusehen – ohne sich überhaupt zu verabschieden. Ein Abschied unterstellt ein Ende, und Miracolina Roselli ist fest davon überzeugt, dass ihr Zehntopfergang ein Beginn ist.
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»Als Billys Verhalten unerträglich wurde und wir um unsere Sicherheit fürchten mussten, taten wir das einzig Humane: Wir schickten ihn ins Ernte-Camp, damit er seine Erfüllung im geteilten Zustand finden konnte. Da die Umwandlung Siebzehnjähriger heute gesetzlich unzulässig ist, hätten wir diese Möglichkeit nicht mehr. Erst letzte Woche hat sich eine Siebzehnjährige in der Nachbarschaft betrunken und einen Unfall verursacht, bei dem zwei unschuldige Menschen ums Leben kamen. Wäre das auch passiert, wenn ihre Eltern noch die Wahl gehabt hätten, sie in ein Ernte-Camp zu schicken? Was meinen Sie?«
JA FÜR DIE GESETZESINITIATIVE 46! Schluss mit dem U-17, Schluss mit dem Verbot, ältere Teenager umzuwandeln!
Mit Unterstützung der »Bürger für eine gesunde
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