Vollendet - Der Aufstand (German Edition)
sie zeitig auf, zieht sich ihre einfachen weißen Kleider an und macht sich fertig für die Schule. »Ich werde ja erst um vier Uhr nachmittags abgeholt. Warum sollte ich den Tag vergeuden?«
Obwohl es ihren Eltern lieber wäre, wenn sie bei ihnen zu Hause bliebe, ist ihr Wunsch ihnen an diesem Tag Befehl.
In der Schule sitzt Miracolina den Unterricht ab. Sie spürt schon eine merkwürdige Distanz zu ihrer Umgebung. Am Ende jeder Stunde gibt der jeweilige Lehrer ihr betreten ihre schriftlichen Arbeiten zurück und teilt ihr die vorzeitig berechnete Note mit.
»Tja, das war’s dann wohl«, sagen sie alle auf ihre eigene Art und Weise. Die meisten können es gar nicht erwarten, dass sie endlich aus ihrem Klassenzimmer verschwindet. Ihr Chemielehrer ist am freundlichsten. Er nimmt sich Zeit für sie.
»Mein Neffe wurde vor ein paar Jahren geopfert«, erzählt er. »Ein wunderbarer Junge. Ich vermisse ihn schrecklich.« Er schweigt gedankenverloren. »Man hat mir erzählt, dass sein Herz an einen Feuerwehrmann ging, der ein Dutzend Menschen aus einem brennenden Gebäude gerettet hat. Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber ich möchte es gern glauben.«
Das möchte Miracolina auch.
Ihre Mitschüler sind an diesem Tag genauso verlegen wie ihre Lehrer. Einige verabschieden sich von ihr. Manche umarmen sie ein wenig linkisch, doch die meisten halten beim Lebewohlsagen Abstand, als wäre der Zehntopfergang etwas Ansteckendes.
Und dann gibt es da noch die anderen. Die Grausamen.
»Man sieht sich, mal hier, mal da «, sagt ein Junge beim Mittagessen hinter ihrem Rücken, und seine Kumpane kichern. Als sich Miracolina zu ihm umdreht, versteckt er sich hinter seinen Freunden. In der Wolke muffiger Pubertätsausdünstungen fühlt er sich offenbar sicher, aber Miracolina hat seine Stimme erkannt. Sie weiß genau, wer er ist. Sie drängt sich an seinen Freunden vorbei und sieht ihm kalt in die Augen.
»Du wirst mich nicht sehen, Zach Rasmussen … aber wenn ein Teil von mir dich sieht, wirst du’s bestimmt erfahren.«
Zachs Gesicht wird ein wenig grün. »Hau ab«, sagt er. »Lass dich opfern.« Aber hinter seiner großen Klappe verbirgt sich Angst, das sieht sie an seinem unsicheren Blick.
Gut , denkt Miracolina, ich hoffe, du hast ein paar Albträume von mir.
Ihre Schule ist sehr groß, und obwohl es in ihrem Wohnviertel nicht viele Zehntopfer gibt, sind noch vier andere Jugendliche weiß gekleidet wie sie. Früher waren es sechs, aber die ältesten beiden sind bereits weg. Die verbliebenen Zehntopfer sind ihre wahren Freunde. Von ihnen will sie sich unbedingt verabschieden. Sie kommen aus völlig unterschiedlichen Familien und gehören verschiedenen Religionen an. Jedes Zehntopfer ist Mitglied einer anderen kirchlichen Splittergruppe, einer Sekte, die ihre Opferpflichten sehr ernst nimmt. Komisch, denkt Miracolina, dass sich diese Sekten seit Jahrtausenden um winzige Glaubensfragen streiten, aber ausgerechnet beim Zehntopfergang sind sie sich alle einig.
»Von uns wird erwartet, dass wir uns hingeben – dass wir wohltätig und selbstlos sind«, sagt Nestor, der ihr im Alter am nächsten ist und in einem Monat geopfert werden soll. Er drückt Miracolina die Hände und verabschiedet sich freundschaftlich von ihr. »Wenn uns die Medizintechnik eine neue Art des Gebens eröffnet, was soll daran falsch sein?«
Allerdings gibt es durchaus Menschen, die den Zehntopfergang für falsch halten. Ja, es werden sogar mehr und mehr. Und ein ehemaliges Zehntopfer, ein Junge, ist sogar zum Klatscher geworden und wird nun von vielen als Held glorifiziert. Was hat das schon mit Charakterstärke zu tun? Immerhin war er ein Klatscher, Herrgott noch mal. Wenn sich jemand lieber in die Luft sprengt, als sich zu opfern, ist das doch nichts anderes, als wenn er die Kollekte klaut, oder? Es ist eine Sünde.
Nach der Schule geht Miracolina wie jeden Tag zu Fuß nach Hause. Als sie in ihre Straße einbiegt, sieht sie das Auto ihres Bruders in der Einfahrt stehen. Zuerst ist sie überrascht, denn er besucht fünf Autostunden entfernt die Universität, aber sie freut sich, dass sich Matteo noch von ihr verabschieden will.
Es ist drei Uhr. In einer Stunde wird der Kleinbus sie abholen. Ihre Eltern weinen jetzt schon. Miracolina wünschte, sie könnten die Sache so stoisch nehmen wie sie oder gar Matteo, der dauernd über gute alte Zeiten plaudert.
»Weißt du noch, damals in Rom, als du in den Vatikanischen Museen Verstecken spielen
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